Kindergeschichten

Karola Mistkäfer (1)

Vorgeschichte: Ein Mistkäfer am Nordpol

Erstes Kapitel: Ein Postbote bewahrt Haltung

Eckart Ton war ein frohgemuter Postbote und ließ sich auch von Frau Setzei nicht die Laune trüben. „Tach, Frau Setzei!“, lachte er über sein glänzendes Postbotengesicht, „Päckchen für Sie.“
„Aha.“, brummte Frau Setzei. „Geben Sie her!“ Sie war im Ort als schroffe Person bekannt.
„Wollen Sie denn gar nicht wissen, von wem es ist?“, erkundigte sich Eckart Ton.
„Nö.“, versetzte Frau Setzei, „ich weiß es ja schon.“
„Ach.“, machte Eckart mit enttäuschtem Ton.
„Von meinem Mann, dem Smutje Setzei.“, fuhr Frau Setzei fort. „Sie sehen doch: Es ist stark bereift.“
Tatsächlich war das Päckchen mit grauglitzerndem Rauhreif überzogen. Unter den schimmernden Wasserkristallen war zu lesen: „Nach Erhalt UNVERZÜGLICH öffnen!“ „UNVERZÜGLICH“ stand in grossen Lettern und unterstrichen.
„Treibt sich am Nordpol herum“, grantelte Frau Setzei, indem sie Eckart Ton die Haustür vor die Nase stiess, „und macht mir eine Hektik, als wäre ich sein Küchenjunge.“ Es mochte wohl berechtigt sein, dass sie für schroff galt.
Eckart Ton rieb sich die verhauene Nase, bestieg sein gelbes Postrad und fuhr damit quer über Frau Setzeis Rabatten davon. Wenn sich seine Laune durch Frau Setzeis Betragen vielleicht doch um ein winziges geschrägt hatte, so wurde sie durch diese Tat wieder ganz und gar ins Lot gehoben.

Zweites Kapitel: Ein kalter Liebesbrief

„Unverzüglich.“, murrte Frau Setzei als sie das Päckchen mit der Küchenschere aufschnitt. Heraus fielen: Ein Schächtelchen und ein Zettelchen. Das Zettelchen hob Frau Setzei zuerst auf. Es war sehr kalt und auf komplizierte Weise gefaltet. Als Frau Setzei es schliesslich auf noch kompliziertere Weise entheddert hatte, war aus dem Zettelchen ein veritabler Brief geworden. Frau Setzei las am Küchentisch:

Herzallerliebstes Brummkäferchen!

(etwas wie ein verschämtes Lächeln stahl sich in Frau Setzeis Antlitz)

Wenn ich Dir in der Heimat so sehr fehle, wie Du mir in der Fremde, dann musst Du schon ganz ausgezehrt und ungemut vor Sehnsucht sein. Ich pauke hier täglich die Nase des Küchenjungen mit dem Suppenlöffel, damit mich das Schmachten nach Dir nicht so schmerzt. Aber ich merke, wie die Wirkung selbst dieses starken Mittels beginnt abzustumpfen.

Die Mannschaft mäkelt, ich hätte das Brot besser wegstauen sollen, es sei vom Meerwasser naß und salzig geworden. Dabei waren es die Tränen, die meinen Augen entströmt sind, als ich nach Dir Sehnsucht litt.

Aber gestern hat mir das Glück in die Hände gespielt. Wie ich eben Kartoffelschalen in die Suppe kehrte, kletterte aus denselben, kurz bevor es mit einem Schwung ins kochende Wasser befördert worden wäre, ein Mistkäferchen und krabbelte in grosser Anmut auf meine Finger. Sofort musste ich an Dich denken und wieder schossen mir die Tränen in die Augen.
„Was tust Du hier am Nordpol?“, frug ich es mit verhangener Stimme.
Und siehe, das Käferchen tat seine reizenden Mandibeln auseinander und sprach: „Und was bitte ist ein Nordpol?“.
Barsch lag mir die Zurechtweisung auf der Zunge, ob es sich unter Insekten etwa zieme, eine Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten. Da dämmerte mir, dass wohl nie ein Mensch zuvor mit einem Mistkäfer gesprochen hatte. Ich liess die Rüge unausgesprochen. Stattdessen erkundigte ich mich: „Können etwa am Nordpol alle Käfer sprechen?“ Ich wusste gar nicht, dass es am Nordpol überhaupt Käfer gibt. Vielleicht war mir eine epochale Entdeckung gelungen, mir, dem Smutje!
Das Käferchen sah mich neugierig, aber ratlos an und gab schliesslich zurück: „Käfer? Und was ist das?“
Es erwies sich, dass das Mistkäferchen unwissender war, als der Schiffspastor. Es wusste reinweg gar nichts. Wie es in meine Kombüse gelangt war, das konnte ich erst nach vielen Fragen und Gegenfragen in Erfahrung bringen.

Drittes Kapitel: Ein Ei und zwei Väter

Frau Setzei fuhr gespannt zu lesen fort. Es begann nun die Geschichte des Mistkäferchens, wie es an Bord der „Polarstern“ gelangt war:
Als Karola noch ein winziges Ei war, hatte ihre Mutter es zusammen mit ihren Geschwistereiern liebevoll in einen Gang unter der Erde getan. Den Gang hatte ihr Vater mit seinen starken Schädelklauen mühevoll ausgehoben: „Die Kinder“, keuchte er, „sollen ein geräumiges Zimmer haben. Denn mit der räumlichen Enge einher geht die geistige.“ Dabei hob er den längsten seiner sechs Zeigefinger, denn dies war einer seiner Leitsätze.
Gemeinsam rollten die Eltern eine Mistkugel vor die Gangöffnung und verfugten sie sicher, indem sie Anlauf nahmen, kurz in die Luft stiegen und sich senkrecht auf die Kugel fallen liessen. Dies taten sie so lange, bis die Kugel den Gang zu ebener Erde abschloss. „Nun kann ihnen nichts geschehen“, sprachen sie glücklich und wandelten in Eintracht fort.

In der Nacht aber durchwitterte ein Schlitzrüssler die Gegend nach Essbarem. Auch er wollte seinen Kindern Gutes: „Ein beweglicher Verstand“, pflegte er zu sagen, „benötigt einen unbeweglichen Körper.“ Fettmästen wollte er seine beiden Töchter, damit sie unbeschadet durch den Winter kämen. Als er an die Stelle kam, an welcher die Mistkugel lag, schlug seine Nase aus wie eine Wünschelrute. „Nase!“, schrie er froh, „Du bezeichnest beutereichen Ort.“, und er begann, in besinnungslosem Eifer den Boden aufzuscharren.
Schlitzrüssler, muss man wissen, sind Allesfresser und tragen in ihrem Maul schreckliche Giftzähne. Das heisst aber nicht, dass sie wirklich alles fressen. Was zu klein ist, oder zu gross zum Beispiel, das lassen sie unbenagt. Die winzigen Mistkäfereier konnte der Schlitzrüssler nicht einmal sehen, geschweige denn seine Giftzähne in sie bohren. So schloff er, als sein Wühlanfall vorüber war und er zu seiner Verwunderung keine Beute vorfand, enttäuscht von hinnen.

Viertes Kapitel: Ein halbstarker Wind wird mißverstanden

Karola war von dem Schlitzrüssler auf den blossen nachtfeuchten Waldboden geschleudert worden. Plötzlich erhob sich ein Küstenwind, der des Nachts ein wenig landeinwärts gestromert war, um für sein jüngstes Söhnchen, den müden Hauch, ein Sportgerät zu finden. Der müde Hauch war ein schwächliches Bürschlein, aber, wie alle Winde, tobte er gern, wenn auch fast unvernehmbar. „Wallen soll er und sich kräftigen!“, murmelte der Küstenwind, „Denn einen tragenden Gedanken bildet nur, wer die Kraft hat, weit herum zu kommen.“ Sprachs und erblickte Karola-Mistkäferei: „Dieses Ei“, freute er sich, „ist eben gerade gross genug, damit der müde Hauch es noch bewegen und mit ihm wirbeln kann.“, steckte Karola in die Weiten seines Mantels und flugs ging’s zurück zur Küste.

Als die Sonne über dem Meer aufging, wurde der Küstenwind sehr schlafbedürftig, denn er pflegte nur des Nachts zu blasen. In dieser Gewohnheit aber lag die Ursache eines betrüblichen Missverständnisses. Dank Karolas Bericht jedoch kann es nun erhellt werden. Der müde Hauch nämlich wurde erst am Morgen munter, denn anders als seine Eltern, schlief er in der Nacht. So war den Eltern der Eindruck entstanden, der müde Hauch wäre lasch und von mangelndem Elan; deswegen hatten sie ihm auch seinen Namen gegeben. In Wirklichkeit aber war ein ziemlich böiger Zauser, nur eben tagsüber, wenn die Eltern schliefen. Er rührte sogar in einer Grindmetal-Kapelle, die sich „Die heulenden Harten“ nannte, das Klapperwerk. Seine Eltern aber ahnten nichts davon und hielten ihn für eine unschuldige Flaute.
An jenem Morgen, kurz bevor er sich legte, säuselte der heimgekehrte Küstenwind dem müden Hauch im Verdämmern zu: „Söhnchen, ich habe Dir ein Kleinod zum Spiel mitgebracht. Sein geringes Gewicht entspricht gerade deinen mickrigen Kräften.“, und er liess Karola-Mistkäferei direkt vor den müden Hauch kullern. Darauf begann er zu schnarchen. Gekränkt hob der müde Hauch das Ei auf und sprach erbittert: „Und was soll ich mit so einem winzigen Ding anfangen?“, warf das Ei in die Luft und drosch es, als es wieder niedertorkelte volley aufs Meer hinaus.
Karola flog weit. Unter ihr sausten Buhnen mit darauf sitzenden Möwen vorbei, ungelenke Windsurfer, die wenig anmutig an ihren Segeln hingen, und ein trauriger, weit aufs Meer getriebener Wasserball. Schliesslich stürzte sie geradewegs in die Kombüse der „Polarstern“, deren zufällig offenstehende Tür von der Wucht des müden Hauchs mit lautem Knall zugeschlagen wurde. Karola purzelte in den Kartoffelkübel. Da hatte sie genug zu Essen, als sie kurze Zeit später schlüpfte. Die „Polarstern“ befand sich an diesem Tage bereits auf voller Fahrt Richtung Nordpol.

Fünftes Kapitel: Kältestarre muss nicht schlecht sein

Die Moral von Karolas Geschichte, schrieb Smutje Setzei in dem Brief an seine Frau, ersieht man leicht: Und wenn die Eltern es dreimal gut meinen, können sie doch manchmal nicht verhindern, dass ihre Tochter sich bis zum Nordpol weit entfernt.

Darauf folgte das Ende des Briefes von Smutje Setzei. Frau Setzei las:
Karola wuchs bei mir in der Kombüse auf, ohne dass ich von ihrer Anwesenheit im Kartoffelkübel wusste. Weil sie aber aus ihrem Kübel nie jemand anderen als mich und den Küchenjungen sah, erlernte sie unsere Sprache anstatt der Mistkäfersprache. Vom Küchenjungen den Satz „Aua, meine Nase!“ und von mir den Rest.
Seit ich sie gestern fand, haben wir miteinander geplaudert, die ganze Nacht hindurch. Es war ganz charmant. Ich habe Zigarren gepafft, Whiskey getrunken, ihre Geschichte erfahren und sogar ihren Namen. Sie heisst Karola. Als sie heute morgen einschlief, fasste ich den Entschluss, sie in Deine Obhut zu geben, feinsliebstes Brummkäferchen. Niemand könnte wie Du mit milder Strenge sie behüten und grossziehen. Karolas Anwesenheit wird Dich an meine Abwesenheit gemahnen, aber auf eine heitere und angenehme Art. Glaube mir, ich spüre es im Herzen, wenn Du in Frohsinn an mich denkst. Die Mannschaft wird fortan süsses statt tränenbittres Brot bekommen.
Du hast es gewiss schon erraten. In dem beigefügten Schächtelchen schlummert Karola. Die Kälte wird sie sicher in Winterstarre versetzt haben. So merkt sie die Beschwerlichkeiten der Postreise nicht. Aber säume nicht, sonst wird sie womöglich ersticken oder verhungern!
Bis wir einander wiederhaben tröste ich Dich mit unserer Karola.

Dein schwer verliebter Smutje Setzei

„O Gott!“, entsetzte sich Frau Setzei, als sie den Liebesgruss ihres Mannes zu Ende hatte, „erstickt oder verhungert!“ Und mit fiebrigen Händen öffnete sie das kleine vieldurchlochte Schächtelchen. Darin lag, herzallerliebst in einen weichen Watteflaum geborgen, ein blauglänzendes Käferchen. Es blinzelte die Äuglein. Es wetzte graziös die elfgliedrigen Fühler. Es sah benommen auf Frau Setzei und murmelte: „Smutje, Dein Bart ist aber lang gewachsen!“

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