Nachdenklichkeiten, Welterklärungen, Wissenschaft

Zur Frage, ob Profit in der Wissenschaft eine Rolle spielt

Vortrag vor der Rapoport-Gesellschaft

https://www.rapoport-gesellschaft.org/

I Einleitung

Sehr geehrte Damen und Herren,

Die Frage wurde mir vorgelegt, ob Profitstreben in den Lebenswissenschaften eine Rolle spielt. Die Frage kann ich mit einem klaren Jein beantworten.

Das „Nein“ im Jein ergibt sich zunächst aus der einfachen Tatsache, dass die Forschung hierzulande wesentlich an den Universitäten und in den Laboren der großen Forschungsgesellschaften besorgt wird. Die werden ihrerseits größtenteils aus allgemein erhobenen Steuern finanziert und können ihre Ergebnisse also in der Regel nicht für einen Gewinn verkaufen.

Der Anteil der Forschungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt liegt derzeit bei über 3% und ist damit in den letzten 20 Jahren um fast 30% gewachsen. Das klänge sehr komfortabel, wären nicht im gleichen Zeitraum die Zahl der Forschenden mehr als doppelt so schnell angewachsen — nämlich um 67%[1]. Damit steht pro Forscher etwa 17% weniger Forschungsbudget zur Verfügung als noch vor 20 Jahren; darüber wird zu reden sein[2].

Zunächst aber zu dem „Ja“ im Jein. Es ergibt sich aus der generellen Motivation, aus der Regierungen überhaupt bereit sind, substantielle Summen für die Forschung auszugeben: Weil der allgemeine Glaube herrscht, dass das Wachstum einer Nationalwirtschaft — und damit Wohlstand und sozialer Frieden — letztlich fast ausschliesslich an Innovationen hängt. Dass also eine Nation, die im Wettlauf der Nationalwirtschaften bestehen will, unbedingt in Bildung und Forschung investieren müsse.

Die Idee, dass Innovation der tiefere Grund für jedwedes Wirtschaftswachstum sei, geht auf den österreichischen Ökonomen Joseph Schumpeter zurück, der praktisch ein Zeitgenosse meiner Großeltern war. Hier ist keine Zeit, über die Schumpeterschen Ideen zu handeln; deshalb nur soviel, dass sie inzwischen zum Allgemeinplatz fast jeder ökonomischen Denkrichtung geworden sind; und implizit auch Bestandteil der sozialistischen Ökonomie waren. Im Sozialismus allerdings ging man davon aus, das Wachstum in gesteigerten Gebrauchswert umzusetzen, anstatt in gesteigerten Wert, bzw. Profit. Grundlage des Wachstums aber blieben Innovation und Wissenschaft.

Wie dem auch sei: Nimmt man den Schumpter ernst, dann wird im herrschenden Kapitalismus also durchaus einen Profit aus der Forschung erwartet. Nur eben ein mittelbarer anstatt eines unmittelbaren.

Der erwartete mittelbare Effekt ist der, dass die Wissenschaft als System von Wissensproduktion und Wissen — als Ganzes also — fortschreitet; dass dieser Zuwachs an Wissen in der angewandten Forschung in Technologien umgemünzt werden kann; dass diese Technologien zu neuen Märkten und effizienterer Produktion führen; dass dadurch ein Profit entsteht; und dass dieser Profit endlich wieder zu einem Teil in die Wissenschaft re-investiert wird. So ergäbe sich in einer idealen Welt ein stabiles, selbsterhaltendes System, dass sich wie Münchhausen am eigenen Schopf gleichzeitig aus dem Morast der sozialen Prekarität und der Unwissenheit zu ziehen vermag.

An dieser groben Idee ist viel Schönes; aber in der Realität funktioniert sie dann eher schlecht als recht. Es wird wohl etwas mit der Idee von Wissenschaft als Motor im Rennen der Nationalwirtschaften zusammen hängen. Die Probleme ergeben sich dabei — so wie der erhoffte Nutzen — nicht unmittelbar, sondern mittelbar.

II Wo die Wissenschaft krankt.

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Kunst, Welterklärungen

Das informierte Auge

Roberto Matta und die Naturwissenschaften

Daniel H. Rapoport & Konstantin Bethscheider
Lübeck & Zürich im März-Mai 2022

Geleit

Roberto Matta — mit vollem Namen: Roberto Antonio Sebastián Matta Echaurren — wurde 1911 in Santiago de Chile als Kind gutbürgerlicher Eltern geboren. Er wurde zu den Jesuiten in die Schule geschickt und studierte danach Architektur. Mit 22 ging er nach Paris, ins Architekturbüro von Le Corbusier. Dann begegnete er den Surrealisten und schloss sich ihnen an. Als Architekt war er unter Surrealisten zwar ein Aussenseiter, aber gerade deswegen ein von André Breton begeistert willkommener. 1938 schliesslich wandte Matta sich der Malerei zu. Seine Werke wirken auf Anhieb graphischer als die der anderen Surrealisten. Die Linie dominiert vor der Fläche, das Detail vor der Komposition. Einen Teil dieser ästhetischen Vorlieben brachte er aus der Architektur mit; einen anderen Teil aber bezog er aus den Naturwissenschaften.

Zehn Jahre später (1948) trug sich zu, dass Matta von den Surrealisten ausgeschlossen wurde. „Der Grund“, sagt er in einem Interview mit Nancy Miller, „war, dass ich über Wissenschaft redete, nicht über Kunst oder Poesie. Ich begann 1945 oder 1946 über diese Dinge zu reden. Ich bin der Meinung, dass Wissenschaft genauso poetisch ist, wie Poesie. Der Wissenschaftler ist ein Poet, einer, der absolut herausfinden will, wie die Realität funktioniert.“

Roberto Matta (1911-2002)

Nun gibt es eigentlich keinen Surrealisten, der nicht irgendwann bei Breton in Ungnade gefallen wäre. Es ist deshalb weniger die Episode selbst, als vielmehr ihr Grund, der interessant ist. Mattas Auffassung, Wissenschaft sei Poesie, war offenbar etwas Besonderes und selbst für die Skandal-affinen Surrealisten anstößig. Die Nähe zur Wissenschaft macht Matta nicht nur unter den Surrealisten zu einem Eigendenker; er war, in dieser Hinsicht, zu seiner Zeit ein Novum in der Kunstszene überhaupt.

1959 wurde Matta zwar wieder von den Surrealisten aufgenommen, aber dennoch waren in der Rauswurf-Affaire zwei Auffassungen über Kunst und Naturwissenschaften aufeinander geprallt. Sie widersprechen einander und bilden dennoch kein Dilemma: Die eine lautet, Kunst hätte mit der Wissenschaft nichts zu schaffen. In der Kunst werde das Subjektive in Szene gesetzt, während die Wissenschaft vom Subjektiven so weit als möglich abstrahiere; hier würde Neues erfunden, dort das Vorhandene entdeckt; hier wäre das Ziel die innere Bewegung des Betrachters, dort ginge es um Erklären und Verstehen; diese wäre „saftig“ und jene „trocken“.

Die andere Auffassung lautet natürlich, Kunst und Wissenschaft wären Ausfertigungsformen der selben Sache, des menschlichen Schöpfergeistes nämlich. Hier wie dort seien Inspiration, Phantasie, Entdeckerfreude und Erfindungsgabe der Funke, der das Prometheus’sche Feuer entfache; hier wie dort ginge es um Formen des Verstehens, des Durchdringens, des Verdichtens und Zusammenziehens der Welt auf eine Essenz; hier wie dort walteten Prinzipien der Schönheit, der Eleganz, der Selbstverpflichtung ihrer Protagonisten auf Wahrheit und auf Angemessenheit der Form. Hier wie dort auch eröffne sich die Welt in einem Blitz, einem Moment des Verstehens, einer Epiphanie des plötzlichen Einsichtnehmens, des tiefen Schauens.

Schauen und Verstehen, das ist auch der Motor des Schaffens von Roberto Matta. Sein Werk wird angetrieben vom Bemühen, Schauen und Verstehen in eine einander wechselseitig erhöhende Einheit zu setzen. An sich wäre das nichts Neues und Ungewöhnliches. Das selbe Bestreben findet sich etwa bei Goethe; man findet es, um ein paar erratisch gewählte Beispiele zu bringen, in der Malerei der Expressionisten (Dix etwa), bei den Komponisten der klassischen Moderne (Schostakowitsch); man findet es in der politischen Kunst (Heartfield) und sogar, wenn man will, bei Wilhelm Busch.

Roberto Matta unterscheidet sich von denen nicht in seinem grundsätzlichen Anspruch. Ihn unterscheidet, wie er Schauen und Verstehen faßt. Beides — und das ist, wie gesagt, möglicherweise sogar unkünstlerisch, wir bereden das noch — beides entnimmt er wesentlich den Naturwissenschaften. Was und wie man schaut, was verstehen bedeutet und was es ist, das man verstehen müsse, all dies will Matta den Wissenschaften, nunja, abschauen.

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Nicht kategorisiert

Die reizlose Seite des Humanismus

Den unten stehenden Aufsatz habe ich 2009 für das damals noch erscheinende Journal „ARGOS“ verfasst, welches ein erster Versuch war, dem Dichter Peter Hacks eine Nach- und Fachwelt zu schaffen. Im Aufsatz geht es vordergründig um die Unterstellung, dass Peter Hacks womöglich ein Antisemit gewesen sei. Hintergründig jedoch ist es eine Auseinandersetzung mit Antisemitismusvorwürfen gegen die DDR und mit der Frage, wie überhaupt (völkische) Identitäten konstruiert werden und warum sie nach wie vor so wirkmächtig sind. Das Thema kehrt zu meinem Ärger immer wieder. Daß es so hartnäckig an unserer Zeit klebt, mag als Beweis für deren Niedrigstirnigkeit hingehen. Aber es nützt ja nüscht, man kann sich ja die Zeit, in der man lebt, nur sehr beschränkt aussuchen. Deswegen bringe ich den Text ein weiteres mal.

Die reizlose Seite des Humanismus

Widerwillige Untersuchung der Frage, ob der Dichter Peter Hacks ein Antisemit gewesen sei

Kurzessay
Erstveröffentlichung in: ARGOS No5, VAT Mainz, November 2009

Künstler wird, wer eine Artikulationsschwäche kompensieren muß.

Eine Leerstelle.

Nachdem der Dichter Peter Hacks gestorben war, häuften sich die öffentlich vorgetragenen Verdächtigungen, er hätte vielleicht ein heimliches Ressentiment gegen die Juden gehegt. Die Schwere der Vorwürfe reichte von der Beklommenheit, er hätte sich in der Frage nicht immer eindeutig und entschieden geäussert, bis hin zur unmissverständlich vorgestossenen Zeihung des offenen Antisemitismus 1.

So trug es sich zum Beispiel bei einer Podiumsdiskussion der Peter-Hacks-Gesellschaft zu, dass der Herausgeber Hermann Gremliza, mit dem Hacks einmal einen polemischen Disput über die Erbsubstanz deutscher Schuld geführt hatte, auf die Nachfrage des Moderators Rayk Wieland, wie es sich denn mit Hacksens Haltung zu den Juden verhielte, nach kurzem Bedenken versetzte: “Es gibt da eine Leerstelle bei Hacks.”2

Der Satz blieb unwidersprochen.

Zugegeben, einer Leerstelle läßt sich schwer widersprechen. Sie tut ja so, als sei sie ein Minimum an Behauptung, als sei sie eigentlich gar keine Behauptung von irgendwas. Fast liesse sie sich mit dem Einbekenntnis von Nichtwissen um einen Sachverhalt verwechseln. Aber Hermann Gremliza hat ja nicht gesagt, bei ihm wäre eine Leerstelle, sondern bei Hacks. Natürlich erzeugt die Behauptung einer Leerstelle inbetreff der Judenfrage Unwohlsein und Argwohn gegen den Leergestellten. Der Grund ist einfach, dass die Rede von der Leerstelle in Wirklichkeit ja nicht die Abwesenheit, sondern die Anwesenheit von etwas behauptet, nämlich von Mangel an Haltung in der Sache; einer Sache jedoch, in der man nicht haltungslos sein dürfe.

Gremlizas “Leerstellen”-Vorwurf hätte wohl unerwidert fortbestanden, wäre nicht der Publizist Ingo Way als jener Tropf aufgetreten, der schliesslich das Tintenfass zum Überlaufen bringt. Die betreffende Stelle bei Way lautete:

Wenn der Unternehmer Aron Kisch[1] bei Hacks tatsächlich jener vaterlandslose Kosmopolit ist, der sein Land schädigt, weil er “keines hat”, dann müsste ich Hacks bei der Wahl des Rollennamens, tatsächlich den Vorwurf des latenten Antisemitismus machen. Und das möchte ich eigentlich nicht müssen.

So wenig mochte Ingo Way das müssen, dass er mit diesem Wunsch seinen Aufsatz enden läßt; wir sehen sozusagen Ingo Way zur rhetorischen Watschn ausholend hinterm Vorhang verschwinden. Nun weiss niemand, warum er sein Stück mit dieser Geste beschliesst, aber dass es explizit auch eine Geste des Unwillens ist, wollen wir uns merken. Das Motiv klingt hier erstmals auf und wird uns fortan begleiten.

Untergärige Motive.

Zunächst sprang es auf mich über.
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Geschichte, Nicht kategorisiert

Bruttig

Eigentlich kommt die Familie meiner Mutter aus Bruttig. Bruttig war ein Winzerdorf an den östlichen Hängen der Mosel, etwa sieben Kilometer flussaufwärts von Cochem (heute heisst die Ortsgemeinde Bruttig-Fankel). Juden und Einheimische lebten hier im neunzehnten Jahrhundert problemlos beieinander. Die Juden, die zwar keinen Wein anbauen, wohl aber mit ihm handeln durften, wohnten mitten im Dorf und beschlossen, als ihre Zahl auf ca. 50 angewachsen war, eine eigene Synagoge zu errichten. Dies geschah im Jahr 1835.

Witzigerweise gehörte das Häuschen, das die Juden zu diesem Zwecke erwarben bis dato der katholischen Kirche. Die Katholiken nutzten es wohl als Speicher, vielleicht um Meßwein aufzubewahren. Wein, wie gesagt, ist ein starker Gott in Bruttig.

So kam es, dass die Synagoge vom selben Gemäuer war, wie die darüber sich wölbende Margarethenkirche. Symbolträchtig wirkt sie wie eine Art Untergeschoß für diese; und aber ist (nicht minder symbolträchtig) aus Bruchsteinen der Christen gefügt. Das schien in den Jahren, als sich die Lehren Gotthold Lessings unter Christen und die Moses Mendelssohns unter Juden verbreiteten, kein großes Ding mehr.

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Geschichte, Nicht kategorisiert

Cochem

Mein Großvater Hans Hirsch war einer von etwa tausend Juden, die die Shoa in Berlin überlebten. Ursprünglich kam er aus Cochem, einem malerischen Füntausendseelenort an der Mosel. Seine Familie war um 1890 aus dem Nachbardorf Bruttig dahin gezogen und handelte wohl mit Wein. Einen anderen Erwerb gab die enge Gegend mit ihren steilen, brüchigen Schieferhängen schwerlich her.

Hans hatte einen jüngeren Bruder Heinrich. Beide zogen sie zur Franzosenhatz in den Krieg Nummero eins. Heinrich starb bei dieser Unternehmung. Er tat dies nur drei Tage vor Kriegsende, angelegentlich eines letzten, sinnlosen Scharmützels in der Nähe von Challerange in der Champagne. Hans überlebte.

Der Familienrat hatte noch vor dem Krieg beschlossen, dass er Arzt werden solle. Was Einträgliches, aber Nützliches. Ehrbar auch. Nach Kriegsende beendete Hans sein Studium, packte sein Ränzle und verliess, vermutlich nicht unfroh, der Enge Cochems zu entfliehen, die Heimat mit der Eisenbahn in Richtung Berlin.

Ja, Cochem verfügte damals schon über eine Eisenbahn. Sie war in den 1870ern gebaut worden, um Kanonen an die immer wieder aufflammende Franzosenfront karren zu können. Diese Kanonenbahn nahm Hans jedoch in die Frankreich abgewandte Richtung, in die wilde Reichshauptstadt. Dort wurde es Arzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten. Nach Cochem kehrte er nimmermehr zurück.

Spulen wir die Zeit vor. 2020. Wegen einer Seuche, der die Menschen den prosaischen Namen Covid19 gegeben haben (vergleiche mit der Namensgewalt „Pest“, „Diphterie“ oder „Cholera“), war es schwer geworden, weit zu reisen. So beschloss ich mit meiner Mutter, die Spuren ihrer Familie — also meiner; also jener Familie Hirsch — in Cochem zu verfolgen. Wir fuhren hin und sie (immer bestens vorbereitet) verabredete ein Treffen mit dem Stadtarchivar. Ein großer, wirklich netter und erstaunlich wissender Mann.

Er empfing uns im 300 Jahre alten Barockrathaus (das im wesentlichen nur noch Repräsentationszwecken dient, die Verwaltungsarbeit geschieht woanders). Dort lagern in einem Tresor Geburts- und Sterberegister, Landeignungskarten und so mancher, mit ehrfurchtgebietender Pedanterie geführte Foliant. Selten habe ich eine derartig tiefe Dankbarkeit gegen die Einrichtung des Beamtenstandes empfunden.

Tags zuvor hatten wir schon versucht, den Platz, auf dem das Haus meines Großvaters stand, zu finden. Es war uns anhand eines alten Photos (das oben zu sehen ist) ungefähr gelungen. Laut Photo stand das Haus wohl direkt am Fuße des Hausbergs von Cochem, dem Pinnerkreuzberg. Gleich hinter dem Haus konnte man seine steile Südflanke klimmen. Hans mochte das als Bub wohl mit seinen Freunden getan haben. Später, in der Zeit bevor die Deutschen sich mehrheitlich gewünscht hatten, von Nazis regiert zu werden, war er ein begeisterter Bergsteiger geworden, der mit Seil und Klampfe in die Alpen stieg. Meine (südliche?) Neigung zur Klampfe muss ich von ihm ererbt haben.

Befragt nach dem genaueren Platze des Hauses, berichtete der Archivar folgende Geschichte: Es hätten zwei Häuser am Fuße des Berges gestanden, beide aus jüdischem Besitz. Als er in den 70ern in das Amt des städtischen Grundstückwalters eintrat, beauftragte ihn die Stadt, jene Grundstücke zu erwerben. Es sei aber, so bedeutete man ihm, besonders im Falle des ersten Hauses keine ganz leichte Angelegenheit. So gewarnt studierte er die Akten und erfuhr, dass er nicht der erste war, der im Auftrage der Stadt jenes Grundstück zu erwerben begehrte.

Vor ihm war schon 1938 einer abgesandt worden. Dem sagte der jüdische Besitzer, er wünsche nicht, zu verkaufen. Tags drauf verschwand der Sohn des Hausbesitzers und kehrte wochenlang nicht heim. Nach gebührender Frist des Mürbemachens klopfte der nationalsozialistische Abgesandte der Stadt abermals an die Tür des Hauses. Ob er nun verkaufen wolle? Der Sohn würde im Falle einer positiven Antwort in den Schoß der Familie zurück kehren. Gut, erwiderte der Hauseigner, unter diesen Umständen willige er in die Transaktion ein. Der Kauf wurde getätigt und der Sohn kehrte wenige Tage darauf tatsächlich zurück. Per Post. In einer Urne.

Dergestalt war der Humor der Nazis. Nach dem Krieg wurde das Haus dem überlebenden Vorbesitzer rückerstattet. Es kam unseren Archivar nun bitter an, dass er abermals als Unterhändler der Stadt zu dem Manne sich begeben musste, um das Erwerbsverlangen nach diesem Grundstück zu vertreten. Erstaunlicherweise gab es wenig Komplikationen. Der Besitzer verkaufte ohne großes Feilschen. Das andere Haus war wohl einfacher zu erwerben. Viel habe ich nicht darüber erfahren. Seine Besitzer fehlten vielleicht, oder verkauften gern, ich weiss es nicht. Das war das Haus meines Großvaters.

Die Stadt riß beide Häuser ab und baute ein Parkhaus im brutalistischen Stil der 70er an den Platz. Eine rechte architektonische Missetat. Der nette Archivar hatte das Grundstück für diese Scheußlichkeit erworben; vermutlich ahnte er nicht, wie sehr sein Kauf zur Verhässlichung des Ortes beitragen würde. Viele andere Gebäude in Cochem (das im Krieg — der Kanonenbahn wegen — verhältnismäßig stark bombardiert worden war) wurden übrigens sehr schön wieder hergerichtet. Es ist durchaus eine Reise wert.

Mein Großvater Hans Hirsch überlebte, wie gesagt, neben Weltkrieg Nummer eins in Frankreich auch die Shoa mitten in Berlin. Naja. Was man so überleben nennt. 1961 tötete er sich selbst, indem er Zyankali schluckte. Heute nennt man das wohl posttraumatisches Belastungssyndrom. Die Wucht des Überlebens war zu viel für sein kluges, sanftes Herz.

Das Moseltal bei Cochem
Mein Großvater Hans Hirsch (links, mit Klampfe)
Cochem, Zentrum (Juli 2020)
Cochem, neuer jüdischer Friedhof, auf den Spuren der Familie Hirsch
Cochem, alter jüdischer Friedhof in der Gemarkung Knippwies (Juli 2020)
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7 Thesen über die Rapoports

Rede zum Rapoport-Kolloquium, am 13.12.2019 im Medizinhistorischen Museum des Universitätsklinikums Eppendorf, Hamburg.

Zunächst: Ich freue mich, hier, bei diesem Hamburger Rapoport-Kolloquium als hauptamtlicher Enkel auftreten zu dürfen. Vielen Dank dafür an Richard Sorg, an Herrn Koch-Gromus und vor allem an Ulrich Fritsche.

Warum sieben Thesen? Nun. Noch ist gar nicht abgemacht, wofür die Rapoports in Zukunft stehen werden und was man bewahren, was herausstreichen und was vergessen wird. Deswegen. Als eine Art Starthilfe. Die Thesen sollen denen, die meine Großeltern nicht persönlich kannten, eine Möglichkeit geben, sich ihnen über die bloßen Fakten und Zeugnisse ihrer Biographien hinaus anzunähern.

Als ich meinem Vater erzählte, dass ich vorhätte, sieben Thesen über die Rapoports anzuschlagen, rief er ohne Zögern: „Warum nur sieben? Luther hat auch gleich 95 vorgelegt!“ Ich entgegnete, dass wir ja nicht, wie der, vorhätten, eine neue Religion zu gründen.

Das soll auch heissen, dass ich die Rapoports in ihrem Wesen als integrativ verstehe. Also als einbeziehend, als einladend. Nur eben: Integrativ von der Seite her. Man meint ja immer, Integration könne nur aus der Mitte kommen. Tatsächlich aber ist es oft diese Mitte, die spaltet. Siehe zum Beispiel Luther.

Man kann, sollen die Rapoports uns sagen, gerade von ausserhalb der Mitte zum Konsens beitragen. Sie gehörten nirgends zentral dazu. Nicht zu den Kommunisten, denen sie als Westemigranten suspekt waren. Nicht zu den Juden, denen sie zu säkular waren. Vielen Wissenschaftlern zu politisch. Den Hamburgern zu Berlinisch. Und so weiter. Sie saßen zwischen allen Stühlen. — Da aber saßen sie stabil und konnten wichtige Impulse geben.

Das ist schon meine erste These über die Rapoports:

1: Zwischen allen Stühlen sitzt man am festesten.

(Auf dem Boden.)

(Seiner Überzeugungen.)

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Dies, das., Splitter

Aktuale Unendlichkeiten

Kleinerer Gedanke, Überlegungs-Splitter:
Es gibt diese Behauptung, in der Natur würden keine aktualen Unendlichkeiten vorkommen. Höchstens vom Universum selbst wisse man nicht, ob es nicht vielleicht unendlich sei; aber alles in ihm enthaltene sei irgendwie endlich. Unendlich sei nur ein Konzept, auf das der denkende Geist verfalle; eine Konsequenz bestimmter (idR mathematischer) Überlegungen. In der wahren Wirklichkeit hingegen würde sowas nicht vorkommen.

Tatsächlich scheint mir vieles davon abzuhängen, was überhaupt man unter „unendlich“ versteht. Beim Nachdenken über diese Frage hatte ich kürzlich eine Einsicht, die vermutlich allen, die sich mit der Sache genauer auseinandersetzen, längst geläufig ist. Mir war sie neu. Sie hat mir durchaus Zufriedenstellung verursacht. Weswegen ich dachte, es wäre doch sicher nicht verfehlt, sie einfach und wenig zusammenhängend hier kund zu tun. Vielleicht findet jemand, der, wie ich, normalerweise weniger mit diesen Dingen befasst ist, einen Nutzen darin. Vielleicht ist der Gedanke ja auch falsch. Whatever. Er lautet wie folgt:

Die meiste Zeit meines Lebens hielt ich (abzählbar) „unendlich“ für sowas, wie das Resultat einer gewaltigen Zählunternehmung. Irgendwie das, was dabei heraus kommt, wenn man immer weiter zählt. Ich fürchte, das ist falsch. Falsch ist der „was dabei heraus kommt“—Teil. Bzw. der „Resultat“-Teil im Satz davor. Unendlich, will mir scheinen, ist kein Resultat von irgendwas; sondern das (permanente) Stattfinden dieses „irgendwas“. (Abzählbar) unendlich ist nicht das Resultat einer Zählung, sondern das „immer weiter zählen“ selbst. Ein Prozess, kein Ding. Ein Werden, kein Sein. Der als Einheit begriffene Prozess. Als würde man von der imaginären Person des (ewig) Zählenden wegzoomen, bis sie immer kleiner würde, immer kleiner; und auf einen Punkt zusammen schrumpfte, oder eine kleine Kapsel. Und der in dieser Kapsel stattfindende unermüdliche, nunja: endlos fortlaufende Prozess: Das ist Unendlich.

Und so gewappnet kann man sich im Universum nochmal anders umsehen: Gibt es Prozesse, die in sich immer weiter laufen? Der Unterschied sollte klar sein: Vorher hielt man nach Dingen Ausschau, die unendlich ausgedehnt oder unendlich schwer sind oder unendlich scharfe Kanten haben etc. Also Dinge, die irgendwie an sich unendlich zu sein schienen. Aber einen Prozess, der sich unendlich fortzuzeugen scheint, den würde man eher nicht als Kandidaten angesehen haben. Weil er das Unendliche scheinbar nicht aktual enthält, sondern nur in seinem Fortdenken. Aber genau das (meine ich begriffen zu haben) ist das aktual Unendliche. Die eingekapselte Ansicht eines (aktualen) Prozesses, für den es kein Ende zu geben scheint.*

Und es scheint tatsächlich, dass es sowas geben könnte. Raumzeit selbst nämlich (habe ich angelegenlich gehört) reproduziert sich auf geheimnisvolle Weise. Dieses Anwachsen von Raumzeit wird wohl als Kandidat für dunkle Energie angesehen. In unserem Zusammenhang ist egal, ob das „stimmt“. In unserem Zusammenhang ist nur von Belang, dass ein Phänomen dieser Art ein guter Kandidat für eine aktuale Unendlichkeit wäre. Und dass also die Frage durchaus nicht abgemacht scheint, ob es sowas in der „wahren Wirklichkeit“ gibt, oder nicht.

——

*Möglicherweise greift der Gedanke sogar noch weiter und das aktual Unendliche ist in jedem Prozess, bzw. jeder Bewegung enthalten. Ich denke an Zenon’s Pfeil-Paradoxon bzw. die Dialektik der Bewegung, die immer zu klären sucht (muss sie?), wie etwas zugleich an einem Ort und nicht am selben Ort sein kann (der Ort kann auch ein abstrakter Ort sein). I.d.R. wird das Problem durch die Bildung eines Grenzwertes gelöst; und also durch Bildung von Unendlichkeiten. Bilden wir diese Unendlichkeiten lediglich, oder sind sie nicht schon tatsächlich, aktual in den Bewegungen enthalten? Dann wäre das aktual Unendliche letztlich ein sehr allgemeines Fürwort für Prozesse; bzw. umgekehrt. Und diesen Gedanken finde ich dann überaus reizvoll.
:da capo:

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Nachdenklichkeiten, Welterklärungen, Zehnte Klasse Leistungsstufe

Free will, the halting poblem and inferential agency.

Beware: This is a fragment. It was my first attempt to tackle the problem of free will; I wrote it roughly 1,5 years ago. It was only after that that I came to write the already published criticism to Sabine Hossenfelders blog and to some physical objections against free will in general. However, since I am currently writing a completely new (shortened and streamlined AND even german) piece about free will, I decided to publish this fragment as is, with all it’s flaws and fallacies…

0. Introduction.

Free will is often discussed as the conundrum of how our decisions could possibly be free on one hand while on the other hand we assume that everything in the physical world (including our brains) is determined by the laws of physics (i.e. not by „us“). Here, I shall give reasons as to why this way of posing the question of free will is largely misguided. I propose that the problem of free will should not be a debate about the special (and seemingly weird) kind of causation that might be at operation in volitional acts, but rather about the inner workings, the experience of and the interpretetation of the decision-making processes in our brains. In particular it seems that the ability to decide on the decideability of a decision is key to the „freedom“ in free will. And this in turn bears much resemblance to the halting problem in computational theory.

Fundamental aspects of these ideas have been put forward already in the 1960s by Donald Mackay and others but it was not until the 2013 paper of Seth Lloyd („A turing test for free will“) that free will has been explicitly connected to the halting problem. In this paper, Lloyd shows that regardless of the determinacy of the underlying world (i.e. regardless of the physics of our brain), a decider who is capable of self-reference can make decisions, which are fundamentally unpredictable to both, the decider and a possible outside observer of the decider.(fn) The fastest way to arrive at decisions, would therefore be to live through all the decision-making efforts it takes; generally, there is no shortcut (and no other author than the decider) to this process. Lloyd, however left out the reasoning as to why considerations about computability and predictability of computational outcomes would help to clarify the problem of free will. Here, I want to fill in some reasons, why the focus of the discussion about free will should be at least for the freedom-part on the computational routines used by the brain to exercise free will, rather than the causal nature of the brains physics.

Another gap in Lloyds argument pertains the type of unpredictability, he refers to. The algorithmic (i.e. logic) unpredictability of a deciders computations mainly precludes that another algorithm could be used to arrive faster at the final decision of the decider to predict her decissions. It does, however, not preclude the same algorithm on a faster computer from arriving earlier at the decision. You can simply think of the faster computer as the exact same brain in a slightly better condition (nutrition, temperature etc.). Such a brain could predict the outcome of its slightly less optimal doppelganger because it would (viewed as a deterministic turing machine) perform just the same operations — only a bit faster. Does the possibility of a faster doppelganger rule out free will? Are doppelgangers at all logically consistent with free will? I want to also give reasons, why the decisions of a decider would nonetheless be free in any sensible meaning of the word even if there was a doppelgangery decider.

Lastly, I want to refine the notion of free will that Seth Lloyd’s ideas point to. I hold that his ideas specify mostly the „freedom“-part, but fall short on the „will“-part. Therefore, I beg to differ from his (intentionally provocative) idea of any self-referential computer to be a bearer of free will. Since the notion of a will is tightly bound to some sort of self-awareness, I would pled to reserve the concept of free will to creatures/artifacts which can be both, free and the bearer of a will.

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Nicht kategorisiert

Zeit für Grasswurzelnetzwerke?

Die Kolumnisten, die ich sehr für Ihre Pluralität schätze, haben ein „Manifest“ verfasst:

https://diekolumnisten.de/2018/02/08/manifest-fuer-einen-neustart-der-blogosphaere/

Manifest ist vielleicht ein bisschen hoch gegriffen. Aber es ist ein Gedanke. Eigentlich ein Wunsch. Der nämlich, Netzwerkstrukturen und Datenströme demokratisch, das heisst von unten, durch die Nutzer kontrollieren und gestalten zu können.

Daran, dass wir im Kapitalismus leben, muss ich keinen erinnern. Es gibt nur wenige Web-Phänomene, die halbwegs dauerhaft und trotzdem nicht profitorientiert sind. Eigentlich fällt mir nur Wikipedia ein. Der Wunsch, will ich sagen, ist bestenfalls fromm.

Obwohl. Es gibt vielleicht eine Möglichkeit. Die nämlich eine Technologie zu erfinden, mit der man plattform-unabhängig sozial interagieren und Datenströme aggregieren kann. Eine Art aufgebohrtes RSS. Also ich bin kein Spezialist in diesen Dingen. Mir schwebt eine Technologie vor, mit der man Webinhalte semantisch granularisieren und abonnierbar bzw auch aktiv pushbar machen kann und die gleichzeitig alle dazu relevanten Inhalte (vor allem natürlich Kommentare) wie ein Magnet wieder einsammelt. Der Nutzer kann einfache Regeln aufstellen, um diese Inhalte zu pullen und zu pushen (das wäre das Pendant zu facebooks „befreunden“).

Technisch scheint mir das einfach machbar. Das Problem läge darin, diese Technologie so intuitiv und einfach zu machen, wie einen Link oder eine Aggregations-Seite wie facebook. Das Ganze könnte zunächst als Browser-Plugin konzipiert werden. So ungefähr. Sehr ungefähr. Meine 2c zum Manifest.

(PS: Ist übrigens mein erstes Posting, das ich mal vollständig und ohne viel Federlesen im WordPress-Editor verfasst hab. Ging ganz gut.)

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Welterklärungen, Zehnte Klasse Leistungsstufe

Some physical objections to some physical objections to Free Will

This will be rather brief and incomplete. But gee, it’s my free will to publish it as is.

Scientists have become notoriously sceptic or pessimistic about free will. Guys like Sam Harris or Victor Stenger, for instance. Also german physicist Sabine Hossenfelder published on her blog three articles, by the names of „You probably have no free will. But don’t worry about it.“ (2013), „10 Misconceptions about Free Will“ (2014) and „Free will is dead, let’s bury it.“ (2016).

Very roughly speaking, these people hold that the laws of nature (be it the basic laws of physics or the inner working of our brains) do not leave any room for anything that could be righteously called „freedom“.

Now, being a scientist myself, I kinda felt the need to answer back. After all, free will is quite an important question, but it’s also notoriously muddy. Therefore, I chose to just focus on the 2012 arxiv-article on „The Free Will Function“ by above mentioned Sabine Hossenfelder. In her paper, Mrs Hossenfelder gives some reasoning as to why the basic laws of physics would preclude freedom from being possible in the physical world; and that is (since there is nothing but a physical world) possible at all.
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