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7 Thesen über die Rapoports

Rede zum Rapoport-Kolloquium, am 13.12.2019 im Medizinhistorischen Museum des Universitätsklinikums Eppendorf, Hamburg.

Zunächst: Ich freue mich, hier, bei diesem Hamburger Rapoport-Kolloquium als hauptamtlicher Enkel auftreten zu dürfen. Vielen Dank dafür an Richard Sorg, an Herrn Koch-Gromus und vor allem an Ulrich Fritsche.

Warum sieben Thesen? Nun. Noch ist gar nicht abgemacht, wofür die Rapoports in Zukunft stehen werden und was man bewahren, was herausstreichen und was vergessen wird. Deswegen. Als eine Art Starthilfe. Die Thesen sollen denen, die meine Großeltern nicht persönlich kannten, eine Möglichkeit geben, sich ihnen über die bloßen Fakten und Zeugnisse ihrer Biographien hinaus anzunähern.

Als ich meinem Vater erzählte, dass ich vorhätte, sieben Thesen über die Rapoports anzuschlagen, rief er ohne Zögern: „Warum nur sieben? Luther hat auch gleich 95 vorgelegt!“ Ich entgegnete, dass wir ja nicht, wie der, vorhätten, eine neue Religion zu gründen.

Das soll auch heissen, dass ich die Rapoports in ihrem Wesen als integrativ verstehe. Also als einbeziehend, als einladend. Nur eben: Integrativ von der Seite her. Man meint ja immer, Integration könne nur aus der Mitte kommen. Tatsächlich aber ist es oft diese Mitte, die spaltet. Siehe zum Beispiel Luther.

Man kann, sollen die Rapoports uns sagen, gerade von ausserhalb der Mitte zum Konsens beitragen. Sie gehörten nirgends zentral dazu. Nicht zu den Kommunisten, denen sie als Westemigranten suspekt waren. Nicht zu den Juden, denen sie zu säkular waren. Vielen Wissenschaftlern zu politisch. Den Hamburgern zu Berlinisch. Und so weiter. Sie saßen zwischen allen Stühlen. — Da aber saßen sie stabil und konnten wichtige Impulse geben.

Das ist schon meine erste These über die Rapoports:

1: Zwischen allen Stühlen sitzt man am festesten.

(Auf dem Boden.)

(Seiner Überzeugungen.)

Gut. Wir müssen uns, zweitens, über den Begriff der „Rapoports“ verständigen. Eigentlich sind es ja zwei ganz eigenständige und unterschiedliche Charaktere: Meine Großmutter Ingeborg Syllm-Rapoport und mein Großvater Samuel Mitja Rapoport. Müssten sie nicht getrennt betrachtet werden? Meine These dazu lautet: Nein.

2: Es ist okay, von „den Rapoports“ zu reden.

Sicher, die Rapoports sind zwei; und zwei sehr verschiedene dazu. Meine Großmutter war berühmt für ihre Warmherzigkeit und ihre menschliche Zugewandtheit. Meinem Großvater sagt man diese Tugenden nicht nach. Er war dafür ein überaus scharfsinniger und urteilsschneller Mann von ungeheurem Wissen, der sich höchstens einmal in zehn Jahren irrte. Diese Tugenden wieder sagt man meiner Großmutter nicht nach.

Trotzdem ist, und das ist mein Punkt, einer ohne den anderen nicht denkbar. Meine Großmutter hätte wohl nie zum Kommunismus gefunden ohne meinen Großvater. Mein Großvater hätte vielleicht nie den Halt, den Liebe und Familie geben können, erfahren. Beider Leben wäre ohne einander derart profund anders verlaufen; beide sind ohne den andern so wenig begreifbar, dass es wirklich ihr Wesen trifft, von ihnen als „den Rapoports“ zu reden. Sie haben einander wechselseitig zu „den Rapoports“ erzogen.

Zu dieser Erziehung gehört auch ein Grundsatz, der dieses Kolloquium anleitet. Er lautet, und das ist These Nummero drei:

3: Wissenschaft ist politisch. (Medizin erst recht.)

Der politische Kampf kam bei Ihnen zuerst. Das bedeutet auch: Es gibt keine unpolitische Wissenschaft. Man hat den Eindruck, das Leben zerfiele in ganz unterschiedliche Teilbereiche: So Privatleben, Berufsleben, politisches Leben, Liebesleben und so fort. Das ist ein Trugschluss. Es ist immer ein und das selbe Leben. Man mag einwenden, es sei aber eine nützliche Krücke, das Leben in bewältigbare Stücke aufzuteilen. Mag sein. Bewältigbare Stücke meint nur eben auch: Nicht alle Verantwortung auf einmal schultern zu wollen.

Sollte Ihnen das Unglück zugestossen sein, Ihr Berufsleben in der Wissenschaft (oder Medizin) zu absolvieren, wird es mit der Verantwortung ganz fatal. Einesteils, weil Sie als Wissenschaftler*in unser Menschenbild wesentlich mitformen — also wo der Mensch herkommt, wie er tickt, ins Weltenganze ordnet usw. — und andernteils, weil die Wissenschaft uns mit immer größerer Macht ausstattet, in die Natur — auch in unsere eigene Natur — einzugreifen.

Dessen sind sich Wissenschaftlerinnen und Medizinerinnen selten besonders bewußt. Sie begreifen sich nicht als politisch Handelnde. — Sind sie aber. Immer. Sie stehen ziemlich im Brennpunkt großer politischer Kämpfe und liefern, wenn sie schon selbst nicht als Kämpfer sich betragen, täglich neue Munition. Und das kann man eben nicht abschütteln, Arbeiter in den Werkstätten des Fortschritts und der ideologischen Munitionsfabriken zu sein. Da muss man was wagen und was sagen.

Was übrigens nicht heisst, dass Wissenschaftler besser Bescheid wüssten. Sie sind natürlich fehlbar. Mediziner, habe ich angelegentlich der Vorbereitung dieses Kolloquiums von Herrn Osten erfahren, waren die Berufsgruppe mit den anteilig meisten NSDAP-Mitgliedern. Rassenlehre und Schädelmessungen galten noch vor nicht allzu langer Zeit als Stand der Technik. Dagegen sich zu feien ist nicht leicht. Humanistische Ideale können sehr schnell zu einer Melange von Auffassungen sich wandeln, die ihr gerades Gegenteil bedeuten. Aufklärung beispielsweise kann in Anti-Islamismus, Globalisierungskritik in Nationalismus, oder das Ideal von Brüderlichkeit ins Völkische umschlagen. Das geht rasend schnell und man merkt es nicht.

Wer der Rapoports denkt, sollte auch daran denken, seine politischen Ideen mindestens der selben gründlichen Prüfung zu unterziehen, wie seine wissenschaftlichen Resultate.

In dieser Hinsicht war es nicht immer leicht, Enkel zu sein. Die gute Seite war, dass ich immer sehr ernst genommen und auf dem Sofa bei Käsekuchen und Tee nach meiner politischen Meinung über dies und das befragt wurde. Andererseits konnte es schnell passieren, dass ich mir dabei ein “Das ist mir zu dumm!” von meinem Großvater einfing. Ende der Konversation. Und aber: Anfang einer neuen – beim nächsten mal.

Die Konversation riß nie ab. Meine Großeltern haben Probleme — auch des Sozialismus — durchaus gesehen. Sie haben an ihnen gelitten und nach Lösungen gesucht. Und das sollte das Mindeste sein.

Weil nämlich viertens:

4: Man kann aus jeder Situation etwas machen.

Dazu muss man eigentlich nichts sagen. Mach ich aber. Es ist bekannt, dass meine Großeltern mehrere male ganz von vorn anfangen mussten. In den USA, in der DDR und im nachwendlichen Gesamtdeutschland. Sie haben sich und ihren Kräften vertraut und immer wieder etwas Erstaunliches aufgebaut und geschaffen. Ich glaube, das Modewort dafür heisst „Resilienz“.

Ein offensichtlicher Trick zur Resilienz war sicher ihre Liebe zueinander. Sie haben das einfach gemeinsam gemacht und einander beigestanden. Insbesondere waren sie mutig. Das meint: Sie hatten keine Furcht, einander ihre Ängste zu zeigen.

Nun findet nicht jeder so einen idealen Partner. Deshalb hier noch ein anderer Trick. Er lag ganz einfach darin, die Steuerbarkeit des eigenen Lebens realistisch einzuschätzen. Also: Eher gering. Spätestens mit ihrer Emigration und dem Beginn des zweiten Weltkrieges war offenbar, dass sich die Welt weder besonders vernünftig noch den eigenen Wünschen gemäß beträgt. Sie ist nicht voraussehbar, schlägt Haken und zeigt sich rationalen Argumenten zum Verzweifeln unzugänglich.

Aber anstatt darauf mit Verängstigung, Zwanghaftigkeit oder Absicherungswahn zu reagieren, haben die Rapoports das als grundlegende Beschaffenheit des Lebens ihren Plänen einfach vorausgesetzt. So, würde ich vorschlagen, ist auch der Kampf gegen den Neofaschismus zu führen. Kann sein, sie gewinnen. Wir setzen die Möglichkeit ersteinmal voraus: Um dann im einzelnen zu bestimmen, wie wir dagegen vorgehen könnten. Man kann, will ich sagen, auch aus unserer Situation etwas machen. Noch.

Wie dem auch sei. Für alles Planen und Streben greift in jedem Fall fünftens:

5: Man muss den Mut haben, sich zu blamieren.

Den Satz kenne ich von meiner Großmutter. Er bedeutet mir viel. Bevor ich auf seine Anwendung in Medizin und Gesellschaft komme, möchte ich ein kleines Loblied auf das Peinliche anstimmen. Das Peinliche und Blamable — der „Cringe“, wie die Jugend derzeit sagt — ist etwas Unterschätztes, vielleicht sogar Großartiges.

Wenn stimmt, was Whitehead sagt, dass nämlich alles Leben nach „Erfahrungsintensität“ strebt, dann gibt es wenig, das labender ist, als eine peinliche Situation. Erinnerungen an peinliche Situationen sind so gegenwärtig, so plastisch und bunt wie kaum eine andere. Warum nicht danach streben, den Schatz der Peinlichkeiten zu mehren, eine Truhe voller Situationen, in denen wir lächerlich waren? In denen wir auf lehrhafte und einprägsame Weise versagt haben, in denen wir uns bei seltsamen Verhaltensweisen selbst auf die Schliche kamen?

Man lernt nur im Scheitern. Das ist auch methodischer Grundsatz in der Wissenschaft. Learning by failing. Natürlich macht man kein Experiment, weil man scheitern will. Aber man muss, wenn man etwas herausfinden will, das Experiment so gestalten, dass es scheitern kann. Nur ein scheiterndes Experiment kann uns darauf hinweisen, was an unserem Verständnis einer Sache noch nicht richtig und korrekturbedürftig ist.

Das gilt auch für das Experiment des Sozialismus. Man muss zunächst gewillt sein, zu akzeptieren, dass sein vorläufiges Scheitern den Hinweis auf seine Fehler enthält. Es nützt ja nichts. Der Gegenstand heisst Gegenstand, weil er uns entgegen stand. Am Sozialismus muss man sich wohl viele male stoßen, wenn man ihn einrichten will. Um das Blamable herum gibt es keine Abkürzung.

Apropos blamabel. Hier kommt These Nummer sechs.

6: Professor werden kann jeder.

Stimmt natürlich nicht. So viele Professorenstellen hält die Berufswelt gar nicht bereit. — Zum Glück. Neben den Lehrenden muss es auch Lernende geben.

Gemeint ist, dass wir nicht titelgläubig sein sollen. Autorität, befanden die Rapoports, verleiht sich nicht aus Stellungen in Hierarchien. Den Fehler sollten wir nicht machen, Macht und Kompetenz; Titel und Autorität; das Richtige mit dem Erfolgreichen; das Wahre mit dem Starken zu verwechseln.

Der Mensch, das wussten beide, ist des Starken bedürftiger, als des Wahren. Der Starke vermag Schutz zu gewähren. Wahrheit bedeutet oft genug Schutzlosigkeit. Wahrheit zeigt ihre Stärke häufig nur auf langen Zeitskalen; nicht selten länger, als ein Menschenleben.

Für autoritäre Charaktere bedeuten Hierarchien auch Ordnung und Sicherheit. Die ist trügerisch. Heute, in Zeiten von „fake news“ besteht sogar nach zwei Seiten Gefahr, abzugleiten. Auf die Seite naiver Expertengläubigkeit, sowie auf die Seite selbstgerechter Faktenresistenz. Diese beidseitige Gefahr kannten meine Großeltern so noch nicht. Ihnen war vor allem der kritiklose Untertanengeist ein Gräuel. Und den gibt’s auch immer noch.

Was uns schliesslich zu siebtens und letztens bringt:

7: Es rettet uns kein höh’res Wesen.

Letzte These. Die höh’ren Wesen sind immer das Letzte, das uns zu bleiben scheint. Meine Großmutter war sich weniger sicher, als mein Großvater, was deren Nicht—Existenz betrifft. Immerhin haben beide beschlossen, dass sie nicht auf einem jüdischen Friedhof begraben werden wollten. Sie liegen nun Urne an Urne mit Ernst Busch, Fritz Cremer, Carl Coutelle und Kurt Sanderling. Das waren eher ihre Leute.

Jedoch wäre falsch, diesen Satz “Es rettet uns…” als anti-religiös zu begreifen. Toleranz war meinen Großeltern unendlich viel wichtiger; sie waren an allen fortschrittlichen Kräften interessiert. Siehe These eins: Sie trieben Integration (von der Seite).

Aber wenn wir hier an einen Schluß kommen, will ich noch auf ein höh’res Wesen zu reden kommen. An die Stelle Gottes trat für die Generation meiner Großeltern in vielen Belangen die Wissenschaft. Statt einer geoffenbarten Wahrheit über die Welt, bot sie etwas viel besseres. Etwas menschgemässeres nämlich, weil sie die Wahrheit von einer gottgemachten Letztwahrheit zu einer menschgemachten Vorläufigkeit demokratisierte und im wahrsten Sinne des Wortes: Begreifbar machte. – Und? Rettet uns die Wissenschaft?

Ich fürchte: Nein. Ich schliesse das nicht aus ihrem augenfälligsten Sündenfall, dem Bau der Atombombe. Es gibt einfach keine höheren Wesen und keine höheren Methoden. Das sind paternale Fiktionen. Es gibt einen Wettstreit der Methoden und Zugänge — und das ist alles.

Und es gibt diesen humanistischen Wertekanon, der verteidigt werden kann, indem wir offen über ihn streiten. Das taten meine Großeltern unentwegt. Sie stritten für und glaubten an eine bessere Zunkunft. Daran, dass die Menschheit sich, auf Umwegen zwar, aber doch unfehlbar einer gerechteren, aufgeklärteren, toleranteren Gesellschaft zuwurschtelt. Dieser Glaube überwölbte ihr gesamtes Leben. Indem wir ihn annehmen oder wenigstens nachvollziehen, können wir uns vielleicht selbst helfen, höh’re Wesen zu werden.

Vielen Dank!

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Ein Gedanke zu “7 Thesen über die Rapoports

  1. Bin über diesen Satz gestolpert:

    „Einesteils, weil Sie als Wissenschaftler*in unser Menschenbild wesentlich mitformen (…)“

    Ein Gendersternchen. Und ich hab immer gedacht, die Deutsche Sprache läge dir am Herzen.

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