Kunst, Welterklärungen

Das informierte Auge

Roberto Matta und die Naturwissenschaften

Daniel H. Rapoport & Konstantin Bethscheider
Lübeck & Zürich im März-Mai 2022

Geleit

Roberto Matta — mit vollem Namen: Roberto Antonio Sebastián Matta Echaurren — wurde 1911 in Santiago de Chile als Kind gutbürgerlicher Eltern geboren. Er wurde zu den Jesuiten in die Schule geschickt und studierte danach Architektur. Mit 22 ging er nach Paris, ins Architekturbüro von Le Corbusier. Dann begegnete er den Surrealisten und schloss sich ihnen an. Als Architekt war er unter Surrealisten zwar ein Aussenseiter, aber gerade deswegen ein von André Breton begeistert willkommener. 1938 schliesslich wandte Matta sich der Malerei zu. Seine Werke wirken auf Anhieb graphischer als die der anderen Surrealisten. Die Linie dominiert vor der Fläche, das Detail vor der Komposition. Einen Teil dieser ästhetischen Vorlieben brachte er aus der Architektur mit; einen anderen Teil aber bezog er aus den Naturwissenschaften.

Zehn Jahre später (1948) trug sich zu, dass Matta von den Surrealisten ausgeschlossen wurde. „Der Grund“, sagt er in einem Interview mit Nancy Miller, „war, dass ich über Wissenschaft redete, nicht über Kunst oder Poesie. Ich begann 1945 oder 1946 über diese Dinge zu reden. Ich bin der Meinung, dass Wissenschaft genauso poetisch ist, wie Poesie. Der Wissenschaftler ist ein Poet, einer, der absolut herausfinden will, wie die Realität funktioniert.“

Roberto Matta (1911-2002)

Nun gibt es eigentlich keinen Surrealisten, der nicht irgendwann bei Breton in Ungnade gefallen wäre. Es ist deshalb weniger die Episode selbst, als vielmehr ihr Grund, der interessant ist. Mattas Auffassung, Wissenschaft sei Poesie, war offenbar etwas Besonderes und selbst für die Skandal-affinen Surrealisten anstößig. Die Nähe zur Wissenschaft macht Matta nicht nur unter den Surrealisten zu einem Eigendenker; er war, in dieser Hinsicht, zu seiner Zeit ein Novum in der Kunstszene überhaupt.

1959 wurde Matta zwar wieder von den Surrealisten aufgenommen, aber dennoch waren in der Rauswurf-Affaire zwei Auffassungen über Kunst und Naturwissenschaften aufeinander geprallt. Sie widersprechen einander und bilden dennoch kein Dilemma: Die eine lautet, Kunst hätte mit der Wissenschaft nichts zu schaffen. In der Kunst werde das Subjektive in Szene gesetzt, während die Wissenschaft vom Subjektiven so weit als möglich abstrahiere; hier würde Neues erfunden, dort das Vorhandene entdeckt; hier wäre das Ziel die innere Bewegung des Betrachters, dort ginge es um Erklären und Verstehen; diese wäre „saftig“ und jene „trocken“.

Die andere Auffassung lautet natürlich, Kunst und Wissenschaft wären Ausfertigungsformen der selben Sache, des menschlichen Schöpfergeistes nämlich. Hier wie dort seien Inspiration, Phantasie, Entdeckerfreude und Erfindungsgabe der Funke, der das Prometheus’sche Feuer entfache; hier wie dort ginge es um Formen des Verstehens, des Durchdringens, des Verdichtens und Zusammenziehens der Welt auf eine Essenz; hier wie dort walteten Prinzipien der Schönheit, der Eleganz, der Selbstverpflichtung ihrer Protagonisten auf Wahrheit und auf Angemessenheit der Form. Hier wie dort auch eröffne sich die Welt in einem Blitz, einem Moment des Verstehens, einer Epiphanie des plötzlichen Einsichtnehmens, des tiefen Schauens.

Schauen und Verstehen, das ist auch der Motor des Schaffens von Roberto Matta. Sein Werk wird angetrieben vom Bemühen, Schauen und Verstehen in eine einander wechselseitig erhöhende Einheit zu setzen. An sich wäre das nichts Neues und Ungewöhnliches. Das selbe Bestreben findet sich etwa bei Goethe; man findet es, um ein paar erratisch gewählte Beispiele zu bringen, in der Malerei der Expressionisten (Dix etwa), bei den Komponisten der klassischen Moderne (Schostakowitsch); man findet es in der politischen Kunst (Heartfield) und sogar, wenn man will, bei Wilhelm Busch.

Roberto Matta unterscheidet sich von denen nicht in seinem grundsätzlichen Anspruch. Ihn unterscheidet, wie er Schauen und Verstehen faßt. Beides — und das ist, wie gesagt, möglicherweise sogar unkünstlerisch, wir bereden das noch — beides entnimmt er wesentlich den Naturwissenschaften. Was und wie man schaut, was verstehen bedeutet und was es ist, das man verstehen müsse, all dies will Matta den Wissenschaften, nunja, abschauen.

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