Roberto Matta und die Naturwissenschaften
Daniel H. Rapoport & Konstantin Bethscheider
Lübeck & Zürich im März-Mai 2022
Geleit
Roberto Matta — mit vollem Namen: Roberto Antonio Sebastián Matta Echaurren — wurde 1911 in Santiago de Chile als Kind gutbürgerlicher Eltern geboren. Er wurde zu den Jesuiten in die Schule geschickt und studierte danach Architektur. Mit 22 ging er nach Paris, ins Architekturbüro von Le Corbusier. Dann begegnete er den Surrealisten und schloss sich ihnen an. Als Architekt war er unter Surrealisten zwar ein Aussenseiter, aber gerade deswegen ein von André Breton begeistert willkommener. 1938 schliesslich wandte Matta sich der Malerei zu. Seine Werke wirken auf Anhieb graphischer als die der anderen Surrealisten. Die Linie dominiert vor der Fläche, das Detail vor der Komposition. Einen Teil dieser ästhetischen Vorlieben brachte er aus der Architektur mit; einen anderen Teil aber bezog er aus den Naturwissenschaften.
Zehn Jahre später (1948) trug sich zu, dass Matta von den Surrealisten ausgeschlossen wurde. „Der Grund“, sagt er in einem Interview mit Nancy Miller, „war, dass ich über Wissenschaft redete, nicht über Kunst oder Poesie. Ich begann 1945 oder 1946 über diese Dinge zu reden. Ich bin der Meinung, dass Wissenschaft genauso poetisch ist, wie Poesie. Der Wissenschaftler ist ein Poet, einer, der absolut herausfinden will, wie die Realität funktioniert.“

Nun gibt es eigentlich keinen Surrealisten, der nicht irgendwann bei Breton in Ungnade gefallen wäre. Es ist deshalb weniger die Episode selbst, als vielmehr ihr Grund, der interessant ist. Mattas Auffassung, Wissenschaft sei Poesie, war offenbar etwas Besonderes und selbst für die Skandal-affinen Surrealisten anstößig. Die Nähe zur Wissenschaft macht Matta nicht nur unter den Surrealisten zu einem Eigendenker; er war, in dieser Hinsicht, zu seiner Zeit ein Novum in der Kunstszene überhaupt.
1959 wurde Matta zwar wieder von den Surrealisten aufgenommen, aber dennoch waren in der Rauswurf-Affaire zwei Auffassungen über Kunst und Naturwissenschaften aufeinander geprallt. Sie widersprechen einander und bilden dennoch kein Dilemma: Die eine lautet, Kunst hätte mit der Wissenschaft nichts zu schaffen. In der Kunst werde das Subjektive in Szene gesetzt, während die Wissenschaft vom Subjektiven so weit als möglich abstrahiere; hier würde Neues erfunden, dort das Vorhandene entdeckt; hier wäre das Ziel die innere Bewegung des Betrachters, dort ginge es um Erklären und Verstehen; diese wäre „saftig“ und jene „trocken“.
Die andere Auffassung lautet natürlich, Kunst und Wissenschaft wären Ausfertigungsformen der selben Sache, des menschlichen Schöpfergeistes nämlich. Hier wie dort seien Inspiration, Phantasie, Entdeckerfreude und Erfindungsgabe der Funke, der das Prometheus’sche Feuer entfache; hier wie dort ginge es um Formen des Verstehens, des Durchdringens, des Verdichtens und Zusammenziehens der Welt auf eine Essenz; hier wie dort walteten Prinzipien der Schönheit, der Eleganz, der Selbstverpflichtung ihrer Protagonisten auf Wahrheit und auf Angemessenheit der Form. Hier wie dort auch eröffne sich die Welt in einem Blitz, einem Moment des Verstehens, einer Epiphanie des plötzlichen Einsichtnehmens, des tiefen Schauens.
Schauen und Verstehen, das ist auch der Motor des Schaffens von Roberto Matta. Sein Werk wird angetrieben vom Bemühen, Schauen und Verstehen in eine einander wechselseitig erhöhende Einheit zu setzen. An sich wäre das nichts Neues und Ungewöhnliches. Das selbe Bestreben findet sich etwa bei Goethe; man findet es, um ein paar erratisch gewählte Beispiele zu bringen, in der Malerei der Expressionisten (Dix etwa), bei den Komponisten der klassischen Moderne (Schostakowitsch); man findet es in der politischen Kunst (Heartfield) und sogar, wenn man will, bei Wilhelm Busch.
Roberto Matta unterscheidet sich von denen nicht in seinem grundsätzlichen Anspruch. Ihn unterscheidet, wie er Schauen und Verstehen faßt. Beides — und das ist, wie gesagt, möglicherweise sogar unkünstlerisch, wir bereden das noch — beides entnimmt er wesentlich den Naturwissenschaften. Was und wie man schaut, was verstehen bedeutet und was es ist, das man verstehen müsse, all dies will Matta den Wissenschaften, nunja, abschauen.
Vorgeschichte, 19. Jahrhundert: Wie die Wissenschaften zu einem Ding in der Kunst wurden
Aufstrebendes Bürgertum = aufstrebende Wissenschaft
Die Moderne hat zwei hauptsächliche Herkünfte. Die erste ist weltanschaulicher Art und hat den Abschied von Gott zu ihrem wesentlichen Inhalt. Natürlich hat die Menschheit sich niemals vollständig von Gott verabschiedet. Aber es gab Umstände, die dazu führten, dass an seiner umfassenden Liebe zur Schöpfung, an seiner Allmacht und auch an seiner Eignung zur Letzterklärung Zweifel aufkamen.
Einer dieser Umstände war die Pest, die zwar in mehreren Wellen furchtbares Leid, aber trotzdem weder das Ende der Welt, noch das jüngste Gericht gebracht hatte. Ein anderer, späterer Umstand war das Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755, das mit seinen 100.000 Todesopfern bei gottesfürchtigen Menschen die Frage aufwarf: „Warum um Gottes Willen?“.
Nun ist der Abschied von Gott einer auf Raten. Wir winken immer noch. Ich erwähne dieses Abschieds, weil er für die bildende Kunst von Bedeutung war. Er änderte die Sujets der Kunst. In dem Maße, in dem die Kirche an Einfluss verlor, verloren die Maler ihre Lust an der Darstellung religiöser Motive. Zugegeben, es war dies auch eine direkte Folge der rückgängigen Finanzen des Klerus. In den protestantischen Ländern wurde der Zehnt abgeschafft. Große Tempel, die gestaltet werden wollten, wurden der Geistlichkeit zunehmend unerschwinglich. Andere Geldgeber für die Kunstschaffenden schickten sich an, an die vakant werdenden Stellen des Adels und der Kirche zu treten.
Dies betrifft auch schon die zweite Herkunft der Moderne: Das Bürgertums kam auf. Das Bürgertum entstand aus einer Amalgamierung jener Stände, die weder Bauern noch Adlige waren und in der Regel in den Städten lebten; vor allem rekrutierte es sich aus Händlern und Betreibern von Wirtschaften und Manufakturen. Diese Leute gewannen rasch an Einfluß, als sie zu Geld gelangten.
Wodurch sie reich wurden? Durch Gaunereien, sicher. Der gelernte Marxist sagt dazu vornehm „ursprüngliche Akkumulation“. Aber Gaunereien reichen nie und erklären nichts. Nein, die wirklich nachhaltig sprudelnde Quelle ihres neuen Reichtums waren vor allem neuartige Methoden, um Waren zu erzeugen und zu transportieren. Mit anderem Wort: Technik. Technik aber, und das ist der wichtige Punkt für die Bürgertumwerdung, in einer selbstverstärkenden Rückkopplung.
Man kennt das Stichwort Dampfmaschine. Allgemeiner gesagt war geschehen, dass die Menschheit in dieser Zeit die Kunst (sic!) erlernte, die Kräfte der Natur zu bändigen und ihren Zwecken dienstbar zu machen. Der entscheidende Unterschied zu früheren technischen Fortschritten war zunächst weniger, dass er dieses mal eine theoretische Grundlage hatte (dazu später); wirklich entscheidend war, dass positive Rückkopplungsschleifen und Quervernetzungen entstanden. Kurz anzudeuten, was das meint: Man benutzte beispielsweise Dampfmaschinen, um Wasser aus Kohlegruben zu pumpen. Dadurch konnte mehr Kohle gefördert werden, was zur Erhöhung der Produktion von Eisen führte (die ihrerseits viel Kohle verschlingt), welches wiederum zum Bau weiterer Dampfmaschinen verwendet werden konnte usw. Ganz wie Münchhausen am eigenen Schopf, so zog sich die erste industrielle Revolution selbst aus dem Morast des Mittelalters.
Plötzlich flossen Rohstoffe in nie gekannten Quantitäten, aus Manufakturen wurden Fabriken, Menschen strömten in rasant wachsende Städte und die bürgerliche Gesellschaft begann sich von ihrer feudalen Herkunft zu emanzipieren.
Man sieht die zentrale Bedeutung der Technik für das Heraufkommen unserer Zeit. Augenblicks versteht man auch den beispiellosen Aufstieg der Wissenschaften. Sie erschienen als technik-lenkendes Ideengebäude, das nun also die Lebensumstände der Menschheit leitete und mit großer Macht umwälzte. Aus den Naturwissenschaften liess sich ableiten, wie hoch der Wirkungsgrad einer Dampfmaschine maximal sein könne, wie weit ein Projektil fliegen würde, welchen Druck man für fliessendes Wasser in hohen Häusern benötigte; und später, wie ein Verbrennungsmotor funktionieren müsse, wie man aus Kohle und Kupfer Elektrizität und Radiowellen erzeugen könne und wie man aus Stickstoff und Wasserstoff so viel Dünger herstellen könne, dass niemand mehr Hunger leiden müsse. Die bislang so hartherzige Natur schien enträtselt und nach Jahrtausenden des Mangels endlich zu bequemen, die erlöste Menschheit an ihrem quellenden Busen zu nähren.
Für die Kunst bedeuteten diese Veränderungen nicht nur das Aufkommen einer neuen Art von Geldgebern und Sujets. Sie bedeuteten auch das Einrichten von Institutionen und Strukturen, die es zuletzt vielleicht zweitausend Jahre vorher in der griechichen Polis gegeben hatte: Zu den ersten selbstbewussten Handlungen des Bürgertums gehörte die Demokratisierung der Kunst durch den Bau von Museen, Gallerien, Konzerthäusern und Theaterbühnen. Kunst wurde auf eine ganz neue Art institutionalisiert und zugänglich gemacht. Vielleicht nicht jedem. Aber unerhört vielen. Und natürlich auch: Kunst wurde zu einer Ware.
Wissenschaft, Moderne und Zersplitterung: Die Sehnsucht nach Einheit
Was trotzdem erstaunlich wenig statt hatte: Dass die Wissenschaft selbst zum Sujet in der Kunst wurde. Es entstanden keine Skulpturen von Dampfmaschinen, kein Maler machte sich einen Namen, indem er den Carnot-Prozess darstellte, kein Avantgardist erregte Aufsehen durch Verwendung eines Webstuhls als neues Symphonie-Instrument.
Allenfalls nahm man die technischen Neuerungen als künstlerisches Handwerkszeug an, neue Farben etwa, oder industriell gewebte Leinwände, es gab Forschritte im Instrumentenbau und Ende des neunzehnten Jahrhunderts die Schreibmaschine (Mark Twain war angeblich der erste Schriftsteller, der sie benutzte) — aber zum Sujet galten das Wissenschaftliche und das Technische in der Regel als untauglich. Bei Turner findet man mal ein Dampfschiff, aber viel mehr fand nicht statt. Man nutzte die Technik gern, aber man stellte sie ungern dar.

Was man stattdessen im neunzehnten Jahrhundert hatte, war Romantik. Anstatt auf das gewonnene Neue richtete sich der Blick der Künstler auf das verlorene Alte. Genauer gesagt, auf das verloren geglaubte. Eine Art aggressive Wehmut brach aus; heute ist sie in Teilen der Künstlerschaft endemisch geworden. Man kann die Romantik als vieles begreifen. Philosophisch als Reaktion auf das angeblich gescheiterte Projekt der Aufklärung; psychologisch als antimoderne Sehnsucht nach Einfachheit, Entschleunigung, Natürlichkeit und irgendwie Inruhegelassen- aber trotzdem Ernstgenommenwerden; oder politisch, als restaurative, antinapoleonische Fronde (diese Definition stammt von dem Dichter Peter Hacks), also als losen Gefühlsbund jener, die gegen republikanische und universalistische Gedanken waren.
Ein bisschen schizophren geht es schon zu, bei Künstlerns, oder? Da klimmt die Menschheit zum ersten mal seit sie von den Bäumen stieg die Aussicht, dass es auch ohne ständige existenzielle Not gehen könnte; ein erster früher Sonnenstrahl bricht durch ihre umwölkte Geschichte, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit kündend — und die Stimmung unter denen, die eigentlich Schönes schaffen sollen, ist jammernde Lichtallergie und Sehnsucht nach einem verlorenen Ort, den es nie gab. Was war los mit denen?
Nichts besonderes. Sie taten, was sie immer taten und was auch, wie wir sehen werden, Roberto Matta ein Jahrhundert später tun sollte. Natürlich war Matta das gerade Gegenteil eines Romantikers, aber er stellte sich generell zur Welt, wie alle Künstler zur Welt sich stellen: Kunst lebt von den Fehlern der Welt. Auch diese Definition kommt von Peter Hacks und er meinte es affirmativ: Wie gut die Menschheit sich auch befinde, der Künstler wiese stets das Verbessernswerte. Wenn sie sich bei den Sternen wähnte, zeige er ihr eine Berghöhle; und wenn sie sich im Staub wälzte, dann höbe er sie auf und malte ihr das Paradies. So war es auch bei den Romantikern; als die Sonne durchbrach, mussten sie zwangsläufig die blaue Blume im Schatten verehren.
Mit den Wissenschaften hing das so zusammen: Das neuzenhnte Jahrhundert ist das Jahrhundert, in dem die Wissenschaft ihre erste große Ausdifferenzierung in Fachgebiete erfährt. Was vordem „die Wissenschaft“ war und von der Philosophie zur Mechanik alles inbegriff, wird nun zu Thermodynamik, Ökonomie, Hydrodynamik, Chemie, Biologie, Altertumskunde und so fort. Der Beruf des Wissenschaftlers entsteht. Die Wissenschaft findet zu ihrer ersten Methodik und Organisation, Universitäten und wissenschaftliche Journale werden gegründet. Die Wissenschaft wird zum wohlorganisierten Umgang mit dem Unbekannten. Wissenschaftler stoßen in alle Bereiche dieses Unbekannten vor und erweitern den Horizont ihres Wissens alsbald in einem Maß, das es dem Einzelnen unmöglich macht, alle Gebiete noch zu überblicken. Mit dem neuen Wissen entsteht auch ein neues Gefühl für die enormen Ausmasse des zu Wissenden und des noch-nicht-Gewussten. Ein Gefühl, das sich nicht selten wie Ohnmacht anfühlte, wiewohl es in Wirklichkeit einer gewaltig gesteigerten Macht entsprang.
Das Phänomen ist seither perennierend. Beispielsweise kann kein einzelner Mensch alle Teile, Materialien, Funktions- und Herstellungsweisen überblicken, die zum Bau eines modernen Verkehrsflugzeugs verwendet werden. Trotzdem sind diese Flugapparate sicherer, effizienter und leistungsfähiger als je. Die Menschheit hat sich immer enger in eine Technosphäre eingesponnen, die kein Einzelner mehr in Gänze zu durchschauen vermag. Sie ist gleichzeitig Gegenstand und Werkzeug ihrer eigenen Verbesserung, an Millionen, wo nicht Milliarden technischer Stellschrauben. Gleichzeitig aber ist der Mensch einmal fallibel. Je größer seine technische Macht, desto gewaltiger sind die Möglichkeiten katastrophaler Fehler und also seine Verantwortung. Wie aber soll er diese Verantwortung wahrnehmen, wenn er das Ganze nicht mehr durchschauen kann?
Die Romantiker waren die ersten, die dieses Dilemma der Moderne spürten. Ihre Reaktion war der naheliegende Impuls, die Verantwortung gar nicht erst annehmen zu wollen. Stattdessen wünschten sie sich die verlorene Einheit der Schöpfung zurück, die Naivität des Nichtwissens, die beschränkte Allmacht und das Allwissen des Einzelnen jener Vergangenheit, da man wenig wusste und wenig konnte. Das Wenige, so erschien es den Romantikern, war jedoch das Wesentliche, das Wahre, das Natürliche, das Menschliche. Dieses wünschten sie an die Stelle des Brüchigen, des Konstruierten, des Ephemeren, des Uneigentlichen und Zersplitterten. Das zentrale Phantasma der Romantik besteht in der Illusion, dass die Welt in Wirklichkeit eins sei und dass diese Welteinheit gerade verloren ging. Das war der Fehler, auf den sie hinweisen wollten. Deshalb malten sie Sonnenuntergänge anstelle von Dampfmaschinen und Nebelmeere statt Erlenmeyerkolben.
Aber das sollte sich gründlich ändern.
Wissenschaftlichkeit, Parvenü unter den Tugenden
Nach einem knappen Jahrhundert Romantik hatten die Künsler sich wennzwar nicht ausgesöhnt, aber doch ausgesehnt. Aller Sehnsucht zum Trotz war die verlorene Welteinheit nicht wieder zurückgekehrt.
Unter anderem natürlich weil sie nie existiert hat. Die Welt hatte ja längst vor der Moderne Risse und ging nicht auf. Seit dem Altertum gab es den Gegensatz zwischen Leib und Seele. Damit verbunden die getrennten Welten des Körperlichen und des Geistigen, von denen seit Jahrtausenden gerätselt und gestritten wurde, wie genau sie zueinander sich verhielten. Ebenfalls lange schon gab es den Bruch zwischen Kultur und Natur, bzw. zwischen Mensch und Rest, also zwischen der Schöpfung und ihrer Krone.
Im Vergleich zu diesen Brüchen, waren die neuen Zersplitterungen und Uneinheitlichkeiten eigentlich klein. Die meisten hatten ohnehin innerhalb der Wissenschaften statt und waren Laien (und Künstlern) gar nicht als solche erkennbar. Beispielsweise wussten die Wissenschaftler lange nicht, wie Thermodynamik und Mechanik miteinander vereinbar wären; und davon gänzlich getrennt wieder schienen die neu entdeckten Gesetzmässigkeiten der Elektrodynamik, der Chemie und der Biologie. Obzwar seither große Vereinheitlichungen zwischen diesen Wissensbereichen stattgefunden haben, liegen sie nach wie vor eher in Schichten vor. Die Stege, die Physik und Chemie oder Chemie und Biologie miteinander verbinden sind sehr viel schmaler, als das Wissen innerhalb dieser Disziplinen.
Nun ist Kohärenz des Wissens den meisten Künstlern Schnuppe. Ihnen geht es um die Einheit des Menschen mit sich selbst; er muss sich in seiner Zeit annehmen können. Ziel des Künstlers ist stets eine Form der Integration von Teilen zu einem Ganzen, zu einem Werk. „Wissenschaft ist Spektralanalyse. Kunst ist Lichtsynthese.“, fasst Karl Kraus den Unterschied in eine gültige Formel.
Erst das ausgehende neunzehnte Jahrhundert brachte in dieser Hinsicht eine bedeutende Umwälzung der Sicht des Menschen auf sich selbst. Etwa ab dieser Zeit konnte er sich wieder annehmen. An die Stelle des vormodernen, geschöpften und essentialistischen Menschen, dem Gott diese und jene Eigenschaften mitgegeben hatte oder die ihm eingeboren seien, trat eine moderne, wissenschaftliche Anschauung des Menschen als Werdender, als Einheit und Kreuzungspunkt vieler Anschauungsweisen: Als naturgeschichtlich vom Affen abstammendes Tier, als sprach-, geschichts- und kulturschaffendes Wesen, als gewaltige Ansammlung von Zellen und Molekülen, als elektrische, hydraulische und mechanische Physis, als Mustererkennungs- und Berechnungsmaschine und so weiter. Diese Auffassung des Menschen: Als ein Werdender entlang multipler Kraftlinien, diese Auffassung wird uns in Mattas Werk ganz explizit begegnen. Matta ist vielleicht der einzige, im Mindesten aber der konsequenteste Maler, der genau dieses Menschenbild in seinen Werken sinnlich erfahrbar zu machen suchte.
Der Mensch also, zu Mattas Vorgeschichte im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert zurück zu kehren, trat nun zum ersten mal mit all den Aspekten in Erscheinung, die wir bis heute an ihm kennen und weiter ausforschen und war erst in dieser Vielheit zu einer neuen, komplexeren Einheit geworden; zum Menschen der Moderne. Der Mensch der Moderne war ganz zentral auch Erforscher seiner selbt. Er wurde Wissenschaftler und Gegenstand dieser Wissenschaft zugleich. Als die Technologie, die er um sich herum schuf, auf sein Selbstverständnis zurückschlug, als er sich mit Hilfe dieser Technologie — und der damit verbundenen Theorie — neu erkannte, bildete der Mensch wieder eine Einheit mit sich und seiner Zeit. Und dadurch wurde er auch für die Kunst wieder bejahungsfähig.
Diesen Umschlag muss man verstehen, um Matta zu verstehen. Ohne dass die Romantiker vor ihm die Naturwissenschaften hundert Jahre lang wo nicht verabscheut, doch wenigstens aktiv ignoriert hätten, wären sie nun nicht von der aufkommenden Moderne so überschwänglich begrüsst worden. Dies ist die Gegenwelle, die wieder einhundert Jahre andauern sollte und die auch Roberto Matta ritt. Der lange Anlauf war nötig, um seinem Werk einen Rahmen zu geben. Was wäre ein Bildnis ohne seinen Rahmen?
Als also der Mensch sich nach hundertjähriger Entzweiung mit sich und der Welt wieder anzunehmen begann, war es ihm auch möglich, Selbstentwürfe seines künftigen Ichs zu gestalten. Und wie er zu entwerfen begann! Selbstentwürfe des Menschen sind das Urmetier der Kunst. Sie rastete regelrecht aus.
Die ersten Jahrzehnte des angehenden zwanzigsten Jahhunderts müssen die bislang kühnsten der Menschheit gewesen sein. Einerseits begriff sie die in ihr schlummernden Potenzen neu, während sie andererseits noch nicht das vielfältige Scheitern selbst ihrer schönsten Pläne erlebt hatte. Aber bevor wir den Gestaltungsüberschwang jener Zeit genauer besehen, wollen wir den Umschwung beschreiben, den das Ansehen der Naturwissenschaften erfuhr. Er ist wesentlich für die entstehenden Entwürfe. Denn mit dem neuen Menschenbild war die Wissenschaftlichkeit zu einer Tugend geworden. Und Kunst ist mindestens genauso am Tugendhaften interessiert, wie am Verderbten.
Wie war die Wissenschaftlichkeit zu ihrem Prestige gelangt? Mehrerlei wirkte zusammen. Zuerst war sie nur als technik-steuernde Vernunft aufgetreten und hatte als solche eher den Anruch von Maschinenöl, als den von Tugend und Anmut. Als aber diese initial technische Vernunft begann ihren Wirkungsbereich auf Gegenstände auszuweiten, die weit über das unmittelbar Technische hinaus reichten und als überdies ihre Teilbereiche begannen, zu einem grossen wissenschaftlichen Ganzen, zu einer Welterklärung zu verschmelzen, da trat sie auch in ernsthafte Konkurrenz zum Schöpfergott als Letzterklärung. Aber das ist längst nicht alles. Wichtiger — in sozialer Hinsicht — war das rasante Wachsen der Universitäten und des berufsmässigen Gelehrtenstandes. Diese Leute genossen alsbald ungemeines Ansehen, einesteils weil der gehobene Stand seine Kinder in ihre Obhut gab, aber dann auch einfach, weil selbst die gebildeten Schichten nicht mehr verstanden, was die Wissenschaftler eigentlich trieben. Es ging, wie einst das Tun des Klerus, über ihren Horizont. Angesichts ihrer technischen Erfolge entschied man sich für Bewunderung. Der Nimbus des Überklugen verband sich trefflich mit der frühbürgerlichen Faszination am Genialischen.
Wiewohl das alles wirkte und den Blickwinkel des Bürgertums prägte, sind es letztlich nur Rahmenbedingungen für das Tugendhafte. Wir reden ja, wenn wir das Sittliche meinen, nicht von den Wissenschaften, sondern vom Attribut der „Wissenschaftlichkeit“, was ein Unterschied ist. Das eine meint das systematische Ausforschen der Welt, das andere betrifft das dabei in Anschlag gebrachte System dieses Ausforschens. Letzteres ist es, das im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert in den Stand einer Tugend erhoben wurde. Die erstaunlichen Erfolge der Wissenschaften warfen alsbald die Frage nach dem Geheimnis dieses Erfolges auf. Und hier behauptete die Wissenschaft, über eine neue und einzigartige Methode zu verfügen, die zwar vielleicht nicht unfehlbar, aber doch unvergleichlich besser, als alles bislang Gewesene sei. Was diese wissenschaftliche Methode in ihrem Kern ausmacht, darüber wird bis heute gestritten. Daran jedoch, dass sie irgendetwas anders und richtig machen müsse liess die Wucht, mit der sie ihr Zeitalter veränderte, keinen Zweifel.
(Meinung des Autors, der selbst Naturwissenschaftler ist: In der Regel wird, zumindest in den empirischen Wissenschaften, die Wiederholbarkeit von Experimenten als jener Kern der wissenschaftlichen Methode angesehen. Ich glaube zwar nicht, dass diese Idee vollkommen falsch ist, aber angesichts der Tatsache, dass in Wirklichkeit nur sehr wenige Experimente unabhängig wiederholt werden, schlage ich einen anderen Kern vor. Zwei Mechanismen scheinen zentral und konstitutiv für die wissenschaftliche Methode: Erstens, dass jedes wissenschaftliche Wissen „öffentliches Wissen“* sein muss und zweitens, dass jeder Wissenschaftler eine Rechtfertigungs- und Bewährungspflicht für seine Behauptungen annimmt, bzw. jede Behauptung in der Wissenschaft praktisch auf Immer dieser Bewährungspflicht unterliegt. Es gibt in der Wissenschaft keine heiligen Sätze. *„Öffentliches Wissen“ heisst, dass es jedem zugänglich und mit geeigneter Methodik überprüfbar ist, was nur eine Potenz zur Wiederholbarkeit unter bestimmten Voraussetzungen impliziert. Somit ist Wissenschaft auch eng an demokratische Ideen und Strukturen gebunden. Dies alles nur als Andeutung und in lächerlicher Gedrängtheit.)
Wissenschaftlichkeit wurde in dieser Zeit zu dem Zauberwort, das es bis heute ist. Wenn etwas „wissenschaftlich“ getrieben wird, dann wird es gründlich und ernsthaft gemacht. Nicht selten knüpft sich auch ein universeller Geltungs- und Wahrheitsanspruch daran (der ironischerweise dem eigentlichen Selbstverständnis der Wissenschaft widerspricht, s.o.). Wie bei allen positiven Werten hat sich das zu einem Imperativ umgekehrt, wer einen Anspruch erhob, eine Sache ernsthaft und zeitgemäß auszuführen, der musste behaupten, dass er sie wissenschaftlich tat.
Alles verwissenschaftlichte. Die politischen Weltanschauungen, die Medizin, das Theater, der Städtebau, die Seelenkunde. Manches mit Erfolg, anderes… nunja. Folglich ihrer Tugenswerdung wurde das Wissenschaftliche in alle möglichen und unmöglichen Bereiche getragen. Beispielsweise hielt man auch das Paranormale für wissenschaftlich ausforschbar. Es wurden Experimentalanordnungen für Telekinese, Telepathie, Nekromantie usw. ausgesonnen, bei denen die neuen wissenschaftlichen Geräte und sozialen Praktiken zum Einsatz kamen, wie zB. die genaue Veröffentlichung von Versuchsanordnungen, um das Okkulte in der Moderne neu zu fundieren. Ich bringe das nicht als Beispiel einer kuriosen Verfehlung (es hätte ja auch funktionieren können), sondern als Beleg dafür, wie sehr der Hang zum Wissenschaftlichen zu einem Zwang und die Wissenschaftlichkeit zur Tugend geworden war.
Die Künste waren von der neuen Tugend auf mehrerlei Weise betroffen. Zum Einen hub eine rege Theorieproduktion an. Das hatte man sich von den Wissenschaften abgeschaut. Zwar gab es schon lange vorher (beginnend vermutlich mit Giorgio Vasari) Theorien des Schönen und der Künste und auch einzelne Künstler hatten die Prinzipien ihres Schaffens dargelegt (Lessing zB. in der „Hamburgischen Dramaturgie“). Aber dass das Schaffen von Werken ganz allgemein nicht mehr genügte, sondern dass es eingebettet in einen theoretischen Kontext vonstatten gehen müsse, das war eine in ihrer Unbedingtheit neue Forderung.
Zweitens entstanden in der Konsequenz dieser Theoriebildung Künstlergruppen. Sie waren das Äquivalent zu einem wissenschaftlichen Lager, also einer Gruppe von Wissenschaftlern, die eine bestimmte Theorie vertraten und zu belegen suchten. In sehr ähnlicher Weise schlossen sich Künstler zusammen, um gemeinsame Konzeptionen und Theorien von Kunst zu erarbeiten und in ihren Werken zu vertreten. Auch das war neu. Für Matta, der lange den Surrealisten zugehörte, sollte es zu einem großen Teil lebensbestimmend werden. Drittens schliesslich brachte die Technik eine neue Lebenswelt für die Menschen, die es darzustellen galt; und die Wissenschaft selbst brachte neue Formen und Gegenstände in die Vorstellungen der Menschen.
Doppelhelix und Spiralnebel: Neue Formen werden sichtbar
Jetzt endlich kamen die Dampfmaschinen in die Bilder. Nicht als Dampfmaschinen natürlich, die waren Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts längst ein alter Hut. Selbst die Kunst der Moderne nahm technische Einrichtungen nur an Stellen zum Sujet, wo sie eine sinngebende, fortschrittsbejahende Symbolik bedeuteten. Ausser in der Agitprop-Kunst und in den verschiedenen Realismus-Strömungen des zwanzigsten Jahrhunderts war das eher selten. Zwar waren Stahlkonstruktionen, Fabriken und Schlote schon vorher hie und da als Kulisse aufgetaucht (zB. in Menzels „Eisenwalzwerk“) , aber wo es nicht ins Symbolische überhöht werden konnte, galt das Technische als unkünstlerisch. Die Erfindung des Neonlichts war für die bildende Kunst vermutlich inspirierender, als die — weitaus bedeutendere — Erfindung des Transistors. Das Formverhältnis zwischen Kunst und Technik blieb weitgehend fremdelnd, auch als sich das Wertverhältnis zwischen beiden von ablehnend zu affirmativ gewandelt hatte.

Gestalterische Impulse indes gingen von den neuartige Formen der — im wahrsten Sinne des Wortes entdeckten — Natur, sowie den allgemeineren Konzepten der Wissenschaften aus. Aus dieser Quelle speist sich, was Matta inspirieren, sein Konzept des Sehens anleiten und die ungwöhnliche Hinwendung eines Künstlers zu den Naturwissenschaften zur Folge haben sollte. Der für Matta entscheidende Aspekt war nicht allein die Überschreitung des unmittelbar sinnlich Wahrnehmbaren — vor allem natürlich des Sichtbaren — mit Hilfe wissenschaftlicher Geräte, also mithilfe von Mikroskopen, Teleskopen, Spektrometern und so fort. Das auch. Aber wichtiger war die Erkenntnis dass die Wirklichkeit sich in praktisch jeder erdenklichen Richtung als anders strukturiert erwies, als der uninformierte, vorwissenschaftliche Künstler angenommen hatte. Dabei entdeckte die Wissenschaft nicht nur neue Formen und Gegenstände, sondern auch neue Prinzipien und Erklärungen.
Der Mensch etwa bestand nun aus Zellen unterschiedlicher Form und Art, die beispielsweise auch Augen, Ohren, Hände und Hirn bildeten und auf geheimnisvolle Weise zusammenarbeiteten, um die Grundlage jeder bildenden Kunst — die Wahrnehmung der Welt und die Selbstwahrnehmung — ins Werk zu setzen. Bis heute ist nicht bekannt, wie diese Zellen soetwas wie ein Weltbild, in dessen Zentrum das transparente Subjekt sitzt, erzeugen. Aber diese Frage ist interessant und aufregend! Und jene Zellen wiederum beherbergten seltsam geformte Organellen und Eiweisse und waren ihrerseits aus komplexen Molekülen zusammengesetzt, die in einer eigenen, vorher ungeahnten und komplexen Welt existierten. Das alles war so erstaunlich, wie bizarr. Die Elektronenorbitale dieser Moleküle markierten nicht nur die Grenze des sinnlich erfahrbaren, sondern überschritten mit ihrer Quantennatur das Vorstellbare überhaupt und forderten es heraus.
Ähnliches galt für das Konzept der Raumzeit und der nicht-euklidischen Räume, die durch Einsteins Relativitätstheorie von einer rein mathematischen Möglichkeit zur wahren Struktur des Wirklichen sich wandelten.
Sowohl die Relativitätstheorie, als auch die Quantenmechanik stellten die Frage neu, wiefern abstrakte theoretische Konstrukte — die hochdimensionale, komplexwertige Wellenfunktion; die vierdimensionale, gekrümmte Raumzeit usw — real sind? Möglicherweise realer, als Tische, Steine, Bäume, ja sogar Menschen?
Für den bildenden Künstler stellt sich diese Frage anders, als für den Wissenschaftler und den Philosophen. Letzterer ist gehalten, auszuforschen, was das Wort „real“ in diesen Fällen eigentlich bedeuten soll. Damit wird er — wie es wesentlich auch seines Faches ist — in der Sphäre rationaler Erwägungen bleiben. Der Künstler hingegen hat mehrerlei Möglichkeiten sich zu dieser Frage zu verhalten: Erstens und einfachstens kann er sie ausschlagen. Er kann behaupten — und hat es vielfach getan — dass der Mensch sich stets und unhintergehbar in der Sphäre des Scheinbaren und Unwirklichen bewege. Alles, was ihn wesentlich beträfe — Liebe, Schönheit, Hass, Ekel und dergleichen — seien die wahren (und ewigen) Gegenstände der Kunst und also von noch weniger wirklicher Machart, als Tische, Steine und Bäume es wären. Die Frage nach wissenschaftlicher oder letztendlicher Realität sei, nunja, wissenschaftlich, oder theologisch — in jedem Fall aber ausserkünstlerisch.
Peter Hacks wieder in dieser Angelegenheit: „Ich habe nichts gegen Naturwissenschaftler. Diese Leute sind nützlich für das, wofür sie nützlich sind. (…) man muß sie schon machen lassen. Was ihnen einzig verboten werden kann, ist, sich in die ernsteren Angelegenheiten der Menschheit einzumengen, in die Verwaltung von Gemeinwesen oder die Erklärung der Welt.“
So, oder so ähnlich verhielten sich wohl die meisten Künstler zu den konkreten Inhalten und Aussagen der Natuwissenschaften. Letztlich ist es eine Art „Schuster bleib bei Deinem Leisten.“ und vieles spricht für diese Haltung. So werden es auch die Surrealisten gesehen haben, als sie Matta ausschlossen. Aber es gab eben auch Künstler, die eine weniger bescheidene Position gegenüber den Wissenschaften einnahmen. Für sie waren beide, Kunst und Wissenschaft, Menschheitsprojekte, die einander viel angingen und zu sagen hatten. Für Matta, einem der ersten dieser Künstler, stellte sich die Frage nach der „wirklichen Realität“ als Frage nach der Tätigkeit des künstlerischen Darstellens: Was stellt ein Künstler eigentlich dar; welche Tätigkeit verrichtet er, wenn er darstellt und wie verhält sich diese Tätigkeit zur Realität, das hiess für ihn, zur modernen, wissenschaftlichen Realität? Diese Fragen bilden den Ausgangpunkt zu Verständnis von Matta. Wollen wir seinem Werk nicht blind gegenübertreten, müssen wir uns an ihrer Beantwortung versuchen.
Hauptgeschichte, 20. Jahrhundert: Matta und das Jahrhundert der unsinnlichen Kunst
Kunstwerke mit Gebrauchsanweisung
Wir hatten schon, dass mit dem zwanzigsten Jahrhundert eine ungebremste Theorieproduktion unter Künstlern anhub; nicht aber hatten wir deren Ausmaß. Es ging nicht selten so weit, dass sich das Verhältnis von Praxis und Theorie geradezu umkehrte: Üblicherweise ist in der Kunst die Theorie der Praxis nachgeordnet. Erst kommt das Werk; dann wird begründet, warum es gut sei, worin seine Schönheit läge und welche Prinzipien seine Anfertigung angeleitet hätten. Kunst war im Wesentlichen Handwerk plus einige, oft nur angedeutete Gedanken. Im zwanzigsten Jahrhundert ging man dazu über, expliziten Gedanken einige angedeutete Handwerklichkeiten folgen zu lassen. Es wurde üblich, erst eine Reihe von Maßgaben und Prinzipien festzulegen, denen dann die Werkproduktion sich ergeben müsse. Manifeste wurden formuliert. Man schrieb ein bisschen voneinander ab, aber man konkurrierte auch auf dem wachsenden Kunstmarkt um Aufmerksamkeit, Originalität und künstlerische Wahrheit.
Anfing ein ganzes Jahrhundert unsinnlicher Kunst. Viele Werke liessen sich nicht mehr ohne Beipackzettel — jene Manifeste oder andere Erläuterungen und Gebrauchsanweisungen — geniessen oder überhaupt entziffern. Das war nicht zwingend schlecht oder unschön; es entstand nur eben eine zusätzliche — intellektuelle — Art des Werkzugangs, die den unmittelbaren sinnlichen Zugang überlagerte. Zu diesen Ideenmalern müssen sich auch die Surrealisten rechnen lassen. Das Zeitalter der Kunstwerke mit Gebrauchsanweisung dauerte, wie das der Romantik, etwa einhundert Jahre und ist, ebenfalls wie die Romantik, nie wieder vollends verschwunden.
Bei Matta fängt die intellektuelle Überlagerung des Sichtbaren schon bei seinen Gemälde-Titeln an: „Titel“, sagt Matta im Gespräch mit Nancy Miller „sind für mich nicht kaprizöse Dinge hier und da, sondern Schläge gegen die Faulheit des Betrachters. Der Betrachter wurde über Jahrhunderte in eine lethargische Haltung versetzt. Ihnen wurde etwas süsses vor die Augen gehängt – etwas, das gut an der Wand ist und da niemanden stört.“ Mattas Werke tragen Titel, die von typisch surrealistischen Assoziationen („Der Taumel des Eros“, „Der Onyx der Elektra“) bis zu expliziten Rezeptionsaufforderungen reichen („Offene Arme wie offene Augen“, „etre avec“ („sein mit“)). Farbrice Flahutez notiert in seinem Aufsatz über Matta und die Wissenschaften: „Matta verwendet oft die Buchstaben OE in seinen Titeln. Der Körper und das Fleisch, Erotik und Tod sind in diesen beiden Buchstaben eingeschlossen, die sich in den Wörtern „foelie, yeux, foeu, poet“ finden.
Man ist bereits in Mattas Titeln gehalten, etwas zu sehen, das nicht unmittelbar sichtbar, aber dennoch — im Gegensatz zu vielen abstrakten Werken — unmittelbar spürbar vorhanden ist. Es ist typisch für Mattas Werke, dass man in ihnen etwas zu sehen glaubt, das bei genauerem Hinschauen gar nicht da ist. Wo in Mattas Werken das Dargestellte zu scheinbar Gegenständlichem sich verdichtet, löst es sich sofort auch schon wieder auf, aber das Aufgelöste bleibt, wie ein fruchtbares Plasma, überall im Bild vorhanden, jedenorts bereit, sich wieder zu einer konkreten Form zu verdichten.
Der Maler Willi Sitte registriert dieses Changieren zwischen Gegenstand und Potenz zum Gegenstand ganz explizit. Es reizt und inspiriert ihn. In seiner Autobiographie schreibt er: „Man hat bei seinen Bildern den Eindruck, dass es sich um eine gegenständliche Welt handelt, aber das ist sie nicht. Etwas unwirklich Wirkliches schwingt bei Matta immer mit. Man meint, in der Räumlichkeit, in der Szenerie etwas Konkretes zu entdecken, aber man vermutet es bloß. Man kann Matta nicht mit Kandinsky oder Malewitsch gleichsetzen. Seine Bildwelt ist komplexer und hat mit dem klassischen Abstrakten nichts zu tun.“
Diese Art der Rezeption hat Matta absolut bezweckt; er will ein aktives sich-engagieren des Betrachters; die klassische Kommunikations-Idee von Kunst: „Sender-Medium-Empfänger“ lehnt er ab. Vielmehr sind Werkschaffen und Werkrezeption gleichberechtigte Teile eines in-der-Welt-seins von Kunst, bei dem die Realität nicht lediglich dargestellt oder vermittelt, sondern gleichzeitig geschaffen und verändert wird. Seinem achtjährigen Sohn Ramuntcho antwortet er, als der ihn fragt „Papa, was arbeitest Du eigentlich?“ „Mein Job ist es, den Moment bis zur Neige auszukosten“.
In dieser kurzen Erwiderung liegen Mattas Antworten auf unsere eingängliche Frage verkapselt: Darauf, was ein Künstler tut, wenn er etwas darstellt. Diese Antwort ist — auch weil Matta sie nirgends umfassend und zusammenhängend expliziert — nicht ganz einfach zu verstehen; aber sie lässt sich aus seinen Interviews und Selbstauskünften gut rekonstruieren. Das Rekonstruierte bietet einen Werkansatz, der philosophisch tief ist und auch künftig fruchtbar gemacht werden kann, selbst wenn man nicht vorhat, Kunst mit Gebrauchsanweisung zu erschaffen. Matta, meint das, lohnt sich.
Scopio: Wär nicht das Auge sonnenhaft
Das Zentrum von Mattas Theoriebildung bildet vermutlich sein „Scopio“-Konzept. „Mattascopio“ ist der Titel eines Matta-Buches und eine Matta-typische Wortspielerei (Zu den typischen Matta-ismen zählen halbernste Späße wie „Mattapher“, „Mattamorphosis“, oder „Matta“ als ital. für „verrückt“, „Matta“ in „what does it Matta“ etc.); es leitet sich von „skop“ wie in „Mikroskop“ oder „Teleskop“ ab und meint dabei alle „skope“ zugleich; alle technischen und gedanklichen Hilfsmittel, die helfen, das Unsichtbare sichtbar zu machen. Es meint aber gleichzeitig weitaus mehr, als Apperzeption von Außenwelt vermittels unseres Sehsinnes.
Klassisch bezeichnet „sehen“ ja ein mehr oder minder passives Registrieren des Vorhandenen mittels unserer Augen; anschliesst sich ein Interpretieren und Einordnen des Gesehenen und darüber vermittelt sich dann vielleicht ein Urteil oder eine Aktion des Sehenden. All das, meint Matta, sei ungenügend und vorwissenschaftlich. Tatsächlich geschieht unendlich viel mehr, wenn wir sehen; und erst recht, wenn wir Kunst ansehen.
Wie aber genau überschreitet Mattas „scopio“ das klassische „sehen“? Zunächst einmal wäre falsch, das Konzept auf die Rezeption zu beschränken; das Werkschaffen und Stoffbegreifen ist ebenfalls impliziert. Das „Mattaskop“ dient nicht allein der Betrachtung und Entschlüsselung von Mattas Werken, es dient gleichzeitig auch Mattas eigener Selbstbefragung; es dient ihm ebenfalls bei der Hinbereitung seines Stoffes und er nutzt es auch im Moment der Schöpfung, da er das zu Schaffende aus der Potenz ins Dasein bringt. All das vermag das Mattaskop; und was bedeutet das, wenn wir es analytisch aufschliessen?
Nun: Es bedeutet zum ersten, dass wir die Wirklichkeit nicht passiv beschreiben oder überhaupt als Beobachter ausser ihr stehen, sondern ihr unverlierbar angehören und sie gestalten, ob wir wollen oder nicht; es bedeutet zum zweiten, dass die Wirklichkeit in vielerlei Prozessen sich zuträgt, die einander durchdringen und beeinflußen (von denen Werkschaffen und Werkrezeption nur zwei unter Myriarden sind), Prozesse, die sich vereinigen und wieder verzweigen und unser eigenes Sein (als Künstler oder Betrachter) ebenfalls enthalten (selbst in sich tausende solcher Prozesse bergend); es bedeutet, schliesslich, drittens, dass die Wirklichkeit als Ganzes eine Totalität darstellt und nicht (ohne gewaltige Verluste an Wahrheit) in unabhängige Welten zerschnitten werden kann und dass die Wirklichkeit folglich in der Lage ist, aus sich heraus Neues zu schaffen — und das auch ohne Rast tut.
So ungefähr muss man sich den durchaus gewaltigen Überbau der Matta’schen Produktion denken. Er ist absolut modern; in ihm gibt es Anklänge an die Quantenmechanik (Totalität der Wirklichkeit, Abhängigkeit des Gesehenen vom Sehenden), an die Prozessphilosophien des 20. Jahrhunderts (kein essentialistisches So-Sein der Welt, sondern ein dynamisches Werden; Konstanz ist nur die Konstanz von Verhältnissen zwischen Prozessen) und natürlich an typisch surrealistische Lieblingsthemen, wie die Überhöhung des Unbewussten und des Traumes (Freud, Psychoanalyse), als ebenso schaffende Teile der Wirklichkeit als Ganzem.
Das ist die große philosophische Klammer. Nun war Matta aber kein Philosoph, sondern Künstler. Mit dem eigentlichen Treiben der Philosophen, penibel ihre Positionen auszuarbeiten und gegen Einwände zu verteidigen, gab er sich nicht ab. Stattdessen war er ein lustig und lustvoll Schaffender. Als Kind des zwanzigsten Jahrhunderts erarbeitete er sich zwar einen für Künstler ungewöhnlich ausgebauten theoretischen Überbau seines Schaffens, aber am Ende musste das alles dennoch in Werkproduktion münden und sich zu einer Schaffensanleitung konkretisieren lassen. Darüber denkt er viel nach. Am Anfang stehen noch typisch surrealistische Techniken, wie sie auch sehr ähnlich zB. von Max Ernst benutzt wurden; Matta sagt über den bildinspirierenden Funken:
„Ich habe meine eigene Technik erfunden, anstatt meine Technik als Maler zu lernen. In der Renaissance erfand Leonardo da Vinci als Kritik gegen die akademische Starrheit die ihn in den Werken Raphaels und der Klassik störte einen neuen Ansatz. Er sagte es sei sehr langweilig mit einem weissen Blatt Papier anzufangen und eine Linie daraufzutun, weil alles was man tut ist, das, was man weiss zu Papier zu bringen. Er sagte, man soll stattdessen mit einem Fleck auf der Wand anfangen, Feuchtigkeit. Wenn du mit einem Fleck anfängst, sagte er, wird nach einer Zeit etwas erscheinen durch jenen lustigen Prozess, den man Halluzination nennt. Dann sah er das, was in der Halluzination erschien, so wie man ein Pferd in den Wolken sieht. Dann sagte er: Folg dem Bild. Wenn du dabei bist Sachen in dem Fleck an der Wand zu sehen wirst du Sachen tun, die du nicht weisst. Du wirst Sachen entdecken und erfinden. Und auch noch mehr Spaß dabei haben! Das ist meine Technik. Wenn ich in dem Fleck etwas sehe was ich kenne, dann mache ich ihn weg und warte bis was anderes kommt. Und dann sehe ich etwas faszinierendes, weil ich eben nicht weiss, was es ist. Was dann erscheint ist etwas wie der Mensch – etwas aus dem Sein – das aus Formen gemacht ist, die dem gesamten Leben der menschlichen Spezies entspringen. Ich amüsiere mich, ich werde überrascht.“
Das alles ist noch sehr in der Nähe zum Écriture automatique, man versucht bei den Surrealisten ganz ausdrücklich, andere kreative Prozesse, als die üblichen der geleiteten Vernunft und des geübten Geschmacks fruchtbar zu machen. Inbegriffen — für Matta jedenfalls — war in diesen Versuchen schon jene Prozess-Philosophie, in der die Wirklichkeit selbst fruchtbar und der Künstler eine Art Selbstverschlingung oder Rückfaltung dieser Wirklichkeit auf sich selbst ist, so dass sie ihren eigenen Geburtshelfer hervorbringt (gleiches gilt für den Betrachter). Genau darin, meint Matta, ähnelt der Künstler dem Wissenschaftler; an genau dieser Stelle wird der Wissenschaftler zum Poeten und der Poet zum Wissenschaftler.
Von Anfang an entwickelt Matta diese im Surrealismus bereits angelegten Auffassungen weiter. Er ergänzt sie um die Auffassung, dass jedwedes Ding nicht allein dieses Ding sei (und auch nicht allein der Prozess, der es als dieses Ding aufscheinen lässt). Es sei stattdessen die ganze Vielheit seines Werdens und Vergehens und darüber hinaus sogar alles, was wir über es wissen und sagen können; all die Legenden, die sich um es ranken und all die Wissenschaft, die von ihm getrieben wurde.
In «Inscapes» von 1938 führt Matta bereits aus: „Das Bild eines Baumes ist nicht die Masse an Grün um den Stamm, die mit mehr oder weniger Deutlichkeit sich vor einem Hintergrund an Farbe abzeichnet. Das Bild eines Baumes ist für uns alles was wir über den Samen, das Keimen, das Spriessen, das Öffnen der Knospen wissen, über den Schatten, den der Baum stiftet, das Gefühl unendlicher Traurigkeit, das er nackt in einer Winternacht auslöst, all die bewegenden Bilder die das Wort – B-a-u-m – in uns evoziert, wovon viele nichts mit dem Bild eines Baumes zu tun haben, aber die dennoch nicht ohne das Bild des Baumes existieren würden.“
Folglich muss die Wirklichkeit und Vielheit der Dinge ganz wesentlich auch aus dem Betrachter und dessen Wissen kommen. Auch der Künstler wird somit zum Betrachter. Was er von den Dingen weiß, fliesst in ihr Sein ein, bestimmt die Dinge und gibt ihnen eine Kontur. Obwohl diese Idee an den Konstruktivismus des späteren zwanzigsten Jahrhunderts erinnert, ist sie jedoch eher in der Tradition Goethes zu verstehen: „Wär nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt es nie erblicken / läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft, wie könnt uns Göttliches entzücken?“ schreibt Goethe in den „Zahmen Xenien“.
Mindestens dreierlei unterscheidet diese klassische Haltung vom Konstruktivismus: Erstens, dass wir nur Bekanntes „sehen“ können (was bescheidener ist, als der konstruktivistische Anspruch, dass wir schlichtweg alles konstruierten). Diese Idee ist auch in den Naturwissenschaften wirkmächtig. Der bedeutende französische Chemiker Louis Pasteur etwa tut (in Hinblick auf die Deutung von Experimenten) den berühmten Ausspruch „Der Zufall trifft nur den vorbereiteten Geist.“ — Was man nicht wenigstens entfernt erwartet, das wird man auch nicht wahrnehmen. Sofern ist Mattas grundsätzliche Philosophie des Schaffens und des Werkanschauens die eines informierten Auges. Der passive Sehsinn allein reicht uns nicht. Wir müssen Formen im Gesehenen suchen, um sie zu finden.
Matta sagt dazu: „Zu sehen braucht ein Vergleichssystem. Wenn du etwas siehst was du nicht kennst, wie nennst du es? Wie siehst du es? Das ist die Frage. Wir sehen generell in Vergleichen. Zum Beispiel siehst du eine Laus unter dem Mikroskop und sagst:‘Sie hat den Kopf eines Schweins und die Ohren eines Elefants. Das ist nicht wahr, sie hat ja einen Lauskopf und Lausohren, aber wir haben nicht das Vokabular um das zu sagen und zu hören.“
Zweitens bringt Goethes Formel zum Ausdruck, dass wir, die „Sehenden“ genauso geschöpft seien, wie das, was wir sehend schöpfen; dass also nicht nur die benennende Vernunft des Menschen schöpfe, sondern dass schlichtweg Allem eine schöpferische Kraft eigne. Und drittens soll auch das von Goethe gebrauchte Verb nicht unbeachtet bleiben. Es lautet „entzücken“. Auch das steht Matta näher, als ein schales „konstruieren“. Es ist ihm eine Lust, in der Welt zu sein und zu schöpfen. Selbst zu Schöpfen, sich fruchtbar zu machen, selbst zu wachsen, etwas zu bewirken, zu sehen und gesehen zu werden. Diese Konzeption aktualisiert auch Goethes Konzept des „Lebens als Gesamtkunstwerk“, wobei es bei Matta weniger um Selbststilisierung geht, als vielmehr darum, dass „leben“ und „schöpfen“ fast ineins gesetzt werden. Daran knüpft sich auch, wie wir später sehen werden, eine Art Vitalismus, die die totale Wirklichkeit und ihr Werden entlang schöpferischer Kraftlinien einer fruchtbaren Wirklichkeit sich denkt.
Raum: Relativitätstheorie bei Matta
Eine der größten naturwissenschaftlichen Entdeckungen des angehenden zwanzigsten Jahrhunderts war die Relativitätstheorie Albert Einsteins. Zunächst (1905) formulierte Einstein seine „spezielle Relativitätstheorie“, in der er die, nunja Relativität von Gleichzeitigkeit in die Physik einführte. In seinem Aufsatz „Zur Elektrodynamik bewegter Körper“ postuliert er die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit als höchste mögliche Geschwindigkeit und führt die Raumzeit als vierdimensionale Wirklichkeit ein. Etwas mehr als 10 Jahre darauf erweitert er die Relativitätstheorie zur „allgemeinen Relativitätstheorie“ mit der bekannten Äquivalenz von Energie und Masse.
Für Matta wichtiger und inspirierender ist jedoch die Konsequenz, dass Masse bzw. Energie die Raumzeit krümmen können, dass also die euklidische Geometrie, die wir naiverweise als richtig und naturgegeben annehmen, tatsächlich nur ein einfacher Spezialfall einer sehr viel komplexeren und reicheren Struktur der Wirklichkeit ist. Matta, bereits im Jahre 1939 in seinen Notizen: „Der Tod der Geometrie ist unvermeidlich, weil sie nicht geeignet ist, die Wirklichkeit vollständig abzubilden.“
Nach Einstein ist der Raum keine passive Bühne mehr, sondern er wird aktiv durch die in ihm enthaltene Materie erzeugt und deformiert; umgekehrt bewegt sich die Materie in den von ihr so geschaffenen Strukturen.
Die Elastizität und Höherdimensionalität der Raumzeit kommt Mattas Wirklichkeitsauffassung entgegen; das unmittelbar sichtbare und das naiverweise als vorhanden genommene sind nur ein kleiner Ausschnitt des Wirklichen. Aber das Wirkliche ist uns mittels anderer Werkzeuge als der unmittelbaren Anschauung dennoch zugänglich, wir können es durch abstrakte mathematische Überlegungen genauso „schauen“, wie durch künstlerische Darstellungen, in denen das Räumliche (das sowieso idR. als Projektion auf eine zweidimensionale Leinwand gebracht werden muss) nach neu zu entdeckenden Prinzipien aufgebrochen und neu arrangiert wird.

Wir hatten schon, dass für Matta ein Ding nicht allein ein Ding ist; sondern gleichzeitig alles, was mit diesem Ding zusammenhängt. Seine Herkunft, seine Zukunft, unser Wissen von ihm, unsere Vermutungen über es, einfach alles. Er sagt: „Eigentlich müsste man von überall sehen“. Dieses von-überall-sehen ist auch durch Mattas Faszination an nicht-euklidischen Räumen inspiriert. Dennoch denkt Matta den Raum noch origineller; um Struktur und Perspektiven seiner Gemälde zu verstehen, muss man zudem wissen, dass Matta — bewusst oder unbewusst — zusätzlich Konzepte aus den klassischen Feldtheorien des neunzehnten Jahrhunderts entlehnte.
Felder sind bis heute eine durchaus rätselhafte Sache. Die einfachsten von ihnen heissen Skalarfelder und ordnen jedem Punkt im Raum den Zahlenwert einer (physikalischen) Größe zu, beispielsweise einer elektrischen Spannung. Für Matta muss vor allem die Visualisierung solcher Felder instruktiv dafür gewesen sein, wie die Welt „in Wirklichkeit“ beschaffen wäre. Felder werden in der Regel durch Feldlinien veranschaulicht, das sind Linien die alle Punkte im Raum miteinander verbinden, an denen ein Feld den selben Wert hat (ähnlich Höhenlinien in einer topologischen Karte). Flahutez erwähnt in seinem Aufsatz über Matta und die Wissenschaften auch, dass Matta explizit von den Feldlinien magnetischer Felder inspiriert war. Eines seiner Bilder trägt den Titel „Die Hertz’schen Oszillationen sehen Dich an“; gemeint sind die von H. Hertz entdeckten elektromagnetischen Wellen.
Dass der Raum von unsichtbaren Linien durchwirkt sei, die aber die Bewegung des Sichtbaren anleiten und ihrerseits durch die materielle Bewegung ihren Verlauf ändern: Diese allgemeine Idee liegt vielen Werken Mattas zugrunde. Bei ihm sind diese Linien zwar keine klassischen physikalischen Feldlinien, sondern Kraftlinien einer grundlegend vitalen und schöpferischen Wirklichkeit, aber das basale Bild ist ganz dasselbe.
Eduardo Carrasco schreibt 1987: „Mattas Raum postuliert eher eine Geometrie der Energien, als eine der reinen Linien im Abstrakten; es ist ein Versuch, Ordnung von den Kraftzentren her zu denken, die den unterschiedlichen Ebenen traditioneller Konzeptionen entsprechen und in denen es keine statischen Momente gibt.“
In Einsteins Relativitätstheorie, sowie in der klassischen Feldtheorie also finden die eher esoterisch anmutenden Begriffe „Kraftlinie“ oder „Geometrie der Energien“ ihren tatsächlichen wissenschaftlichen Ursprung. Natürlich überschreitet Matta sie künstlerisch. Aber auch wenn Matta nachweislich von waschechten Esoterikern, wie zB. Pjotr Ouspenskij beeindruckt war, blieb er letztlich im Irdischen und Hiesigen. Im Gegensatz zu den Esoterikern, die eine Welt über und hinter dem Scheinbaren postulieren, findet Matta das Rästelhafte und Unsichtbare in der Welt selbst: Ganz wie die Wissenschaftler.
Wir hatten ja schon die Unwirklichkeit der ewigen künstlerischen Sujets, also Liebe, Schönheit, Ängste, Träume etc. wenn man sie mit „wirklichen“ Dingen, wie Tischen, Bäumen und Läusen vergleicht. In ganz dem selben Sinne muss man die Matta’schen Kraftlinien als „unwirklich“ verstehen. Sie sind sein Versuch, das Künstlerische mit dem wissenschaftlichen Weltbild zu harmonisieren. Niemand wird bezweifeln, dass es etwas wie Liebe oder Ängste tatsächlich gibt; und dennoch lassen sich diese Dinge nicht im vermeintlich einzig wirklichen „Rasen der Elektronen“ des reduktionistischen Weltbildes finden oder auch nur annähernd weisen. Matta sagt uns: Weil diese Dinge anders in der Welt vorhanden seien, als Elektronen oder Boviste oder Planeten. Sie entstünden eben entlang vitaler Kraftlinien, die ihrerseits eine Verbildlichung von real ablaufenden Prozessen seien. So erklären sich die allgegenwärtigen Linien in seinen Bildern. Sie sollen die Fronten verbildlichen, entlang derer Matta glaubt, dass die Wirklichkeit nicht nur die Dinge, sondern auch uns, unsere Antriebe und alle Sujets der Kunst schöpft.(Die Autoren fügen an, dass die Naturwissenschaft immer noch nicht vollständig erklären kann, warum uns die Wirklichkeit „dinglich strukturiert“ (als aus Dingen bestehend) entgegen tritt. Ein Teil dieser Erklärungslücke betrifft die Grundlagen der Thermodynamik und ein anderer Teil betrifft die wissenschaftliche Erklärung unserer Wahrnehmung. Das alles ist Gegenstand aktueller Forschungen (Stichworte „komplexe Systeme“ und „Bewusstseinsforschung“.)
Anders, als bei klassischen physikalischen Feldlinien und Räumen fällt in Mattas Werken auf, dass alle Räume und Linien an irgendeinem Ort spontan entstehen und an einem anderen ebenso verschwinden bzw. enden können. Das hat nicht allein mit der zeitlichen Dimension zu tun. Mit der natürlich auch. Aber Matta will nicht nur bedeuten, dass jedwedes Ding in der Zeit einen Anfang und ein Ende hat, sondern dass die Wirklichkeit zusätzlich zu den greifbaren Dingen auch Potenzen und Lücken hat. Moleküle sind sind nicht nur Moleküle; sie sind auch immer Bausteine anderer Moleküle. In ihnen schlummert eine Potenz zu neuen Verbindungen mit wieder ganz anderen Eigenschaften. Sie sind — neben allem, was sie augenscheinlich sind — auch das: Ein Angebot an die Zukunft, ein Same von etwas anderem, etwas Neuem. Diese ausfüllbaren Leerstellen und Potenzen der Wirklichkeit, die für Matta schon bei den Molekülen, im Kleinsten also, beginnen, müssen seiner Meinung nach den Künstler interessieren. Nicht nur die Linie selbst, auch ihr Anfang und ihr Ende und ihre potenziellen Fortsetzungen will Matta darstellen. Und so erklärt sich — neben dem aufgebrochen und gekrümmten Räumlichen — auch das beständige Aufhören und Anfangen von Räumen in seinen Werken, das zu labyrinthischen Verschachtelungen und perspektivischer Ambivalenz führt.

Biomorphismen: Biologische Formen bei Matta
Kommen wir schliesslich zum Vitalistischen, Organischen, zum Fruchtbaren und Exuberanten bei Matta. Dazu müssen wir nocheinmal zum Abschied von Gott. Matta war ja auf die Jesuitenschule gegangen, kam also vom Katholizismus. Nicht selten nachvollzieht die geistige Entwicklung eines Menschen die Ideengeschichte der Menschheit im Schnelldurchlauf.
Matta, soll das heissen, kam vermutlich von einem naiven Gottesglauben, den er mit seiner intellektuellen Erwachsenwerdung zunächst in eine Form des Monismus überführte. Gott war nicht mehr ausser, sondern in der Natur; sein Wirken geschah nicht überhalb, sondern durch die Naturgesetze; die Welt war als Ganzes beseelt. Mit diesem Maneuver wird Gott zwar nicht gänzlich verabschiedet, aber seine beunruhigende Allgegenwart als allwissender und allsehender Geist ist damit weitgehend beendet. Der Monismus schliesst Gott die Augen.
Spätestens mit seiner Hinwendung zur Malerei und den Surrealisten entfernt Matta dann auch noch das Deistische aus dem Monismus. Er entgottet die Welt, aber er entseelt sie nicht. Was er an Übernatürlichem fortnimmt, überkompensiert er durch Hinzufügung von Natürlichem. Dem Künstler Matta erscheint Welt durch und durch fruchtbar, üppig und quellend. Das ist auch in einem biologischen Sinn zu verstehen, die Wirklichkeit gebiert sich selbst in jeder Sekunde; sie tut es sowohl asexuell durch Knospung und Keimung, als auch sexuell durch Verschmelzung von Gameten und beständige Synthesen. In einem durchaus sexuellen Sinn schafft sie Neues durch Re-Kombinationen des Alten.
Matta gibt 1941 im amerikanischen Exil zu Protokoll: „Ein Gemälde herzustellen ist eine phänomenale Erfahrung, kolossal in dem Sinn, dass der Mensch innovativ ist, während die Natur fortwährend erfindet. Es ist als würde man an künftigen Zeiten teilnehmen (…) Man malt die kolossale Struktur des Lebens, so wie die Wissenschaft Städte geometrisiert.“
In diesen Sätzen postuliert er ganz nebenbei eine ziemlich originelle Aufgabenteilung zwischen Wissenschaft und Kunst: Der Wissenschaft fiele demnach zu, die materielle Grundlage von Kultur zu schaffen („Geometrisierung der Städte“, womit er zweifelsohne auch seine Herkunft als Architekt meint), während die Kunst übernähme, das Leben selbst zu gestalten (womit er auch wieder sich selbst mitmeint, als Lebewesen, das durch sein Lebendigsein die Zukunft schafft (das Tote kennt keine Zukunft, es ist nur im jeweils gegenwärtigen Moment). Zukunft ist bei Matta auch stets das Neue; sie schafft sich durch Erfindung, das erklärt ihre grundsätzliche Offenheit und Unbestimmtheit; und das Grundmodell der Erfindung, d.h. des aktiven Schaffens von Neuem entnimmt Matta der Erfindungsgabe der lebendigen Natur. Seine Welt ist ontologisch vital.
Mattas Vitalismus schlägt sich mindestens ebenso augenfällig in seiner Malerei nieder, wie die nicht-euklidischen Räume. Seine Gemälde enthalten organische Formen, Biomorphismen, die an Zellen und Zellorganellen und sogar Proteinstrukturen erinnern. Eine wichtige Inspiration für solche Formen findet Matta schon vor seinen eigenen mikroskopischen Abenteuern bei dem deutschen Zoologen Ernst Haeckel.
Haeckel war nicht nur ein enorm populärer und zu seiner Zeit wirkmächtiger Zoologe, Monist und predigender Darwinist, er war auch ein begnadeter Zeichner. Weder vor noch nach ihm gab es einen Naturwissenschaftler, der nicht nur mit einem unerhörten zeichnerischen Talent gesegnet war, sondern es seinem Beruf auch noch derart gewinnbringend verbinden konnte. Haeckel veröffentlichte prächtige Atlanten von Diatomeen, Medusen und anderen Meeresorganismen. Zu seiner Zeit kann man Wirkung dieser Zeichnungen auf die Phantasie junger Menschen schwerlich überschätzen; es muss ihnen wie Science Fiction vorgekommen sein, mit dem Unterschied, dass all diese phantastischen Lebewesen real waren. Wenn dieser junge Mensch überdies auch Architekt ist, werden ihm sofort die exquisiten Innenräume und spektakulären Symmetrien der Radiolarien (Kieselalgen) auffallen. Dabei sind die Radolarienformen fast beliebig skalierbar: Es können winzig kleine Einzeller sein, oder Entwürfe biomorpher Flugapparate; bis hin zu gigantischen Strukturen bizarrer Planeten oder Raumschiffe.
In seinem Aufsatz „Ein Auge am Mikroskop und das andere am Teleskop.“ schreibt Fabrice Flahutez: „Wie bei den meisten Surrealisten setzt sich Mattas Interesse an Biologie bis in die 1990er fort, inklusive der Nutzung von Mustern von Radolarien, die er beim Zoologen und Illustrator Ernst Haeckel (1834-1919) borgt (…)“. Matta selbst durchlebt, als er 1939 nach New York emigriert, eine regelrechte Mikroskopie-Obsession. Tagelang, berichtet Gordon Onslow Ford, sei sein Auge ans Mikroskop „geklebt“ gewesen, während er Blumen, Insekten und Schneckenhäuser studierte.
1980 sagt Matta selbst von seiner Erforschung biomorpher Formen: „Ich will dem Menschlichen nicht entfliehen. Ich möchte andere Universen erfahren, die seltsamsten, angefüllt mit unbekannten Formen. Bis zu der Grenze, an der das Menschliche deformiert wird, das heisst, alles anzunehmen, das an ihn erinnert und alles abzulehnen, das nicht an ihn erinnert. Dann hast Du das Limit erreicht. Ich will aber darüber hinaus. Ich fahre ständig fort Bücher und Reproduktionen zu überarbeiten und fertige Zeichnungen all der anderen Formen an, die organische Materie annehmen kann, seien sie botanisch, zoologisch, Insekten… Auf diese Weise habe ich die enorme Anzahl anderer Formen entdeckt, die wirklich sind, die existieren und wenn sie Dir unbekannt vorkommen, arbeitest Du weiter und siehst nur die Formen, von denen Du schon weißt, dass sie existieren. Darum erforsche ich andere Morphologien: Die Würmer, die in unseren Ärschen leben, Fliegen, alles Irdische. Ich lerne ihre Formen durch das Teleskop und das Mikroskop kennen.“
Ein anderer bedeutender Wissenschaftler, den Matta vermutlich nur mittelbar, aber dafür desto intensiver rezipiert hat, war der französische Mediziner und Zellbiologe Alexis Carrel. Ihm war (genau in Mattas Geburtsjahr 1911) gelungen, eukariotische Zellen ausserhalb eines Organismus zu am Leben zu halten und zu kultivieren. 1911 war auch das Jahr, in dem die Zellkultur geboren wurde. Damit begann die Erforschung einer ganzen Welt zellulärer Phänomene und Formen.
Die Zelle gilt nach wie vor als kleinste Einheit des Lebens; und das Universum zellulärer Formen, das wir heute kennen — Zellmorphologien, Arten der Zellbewegung, Form der Organellen, wie Zellkern, Golgi-Apparat oder die Schläuche des endoplasmatischen Retikulums — sind in mikroskopischen Untersuchungen von Zellkulturen entdeckt worden. Ohne Zellkultur — ohne Carrel — hätten wir diese Kenntnisse entweder gar nicht oder nur sehr viel aufwändiger erlangen können. Erst die Zellkultur ermöglichte, einzelne lebendige Zellen genau zu studieren, weil sie dadurch optisch zugänglich wurden.
(Sowohl von Ernst Haeckel, als auch von Alexis Carrel soll nicht verheimlicht sein, dass beide Anhänger sozialdarwinistischer Theorien waren und insbesondere die Eutanasie, d.h. das „Ausmendeln schlechter Gene aus dem Genpool der Menschheit“ befürworteten. Dass dies durch die Ermordung von Neugeborenen geschehen müsse, wussten beide, nahmen es aber im vermeintlich höheren Interesse einer genetisch verbesserten Menschheit in Kauf. Carrel war darüber hinaus ein Gegner der Emanzipation der Frau und ein Kollaborateur des Vichy-Regimes. Ich erwähne das nicht, um diese Wissenschaftler zu denunzieren, sondern, um dem Leser bei der Widersprüchlichkeit ihrer Einordnung zu helfen. Matta, den Gegensatz zu weisen, übernahm oder vertrat keine dieser antihumanistischen Haltungen.)
So hat Carrel über den Umweg hunderter, wo nicht tausender durch ihn angestossener Zelluntersuchungen letztlich auch das Auge Matta’s informiert und seine Formen des scheinbar Gegenständlichen beeinflusst. Nicht nur die Linien und die „Dingoide“ Mattas sind biomorph; auch seine Menschen sind seltsam amoeboid („Dingoide“ = Neologismus der Autoren, um Dinge zu bezeichnen, die wie Dinge aussehen, aber keine sind.). Lustig karrikaturesk einerseits, andererseits auch radikal vereinfacht und auf ihr Zelle-sein bzw. ihr aus-der-Zelle-kommen reduziert.

Matta biomorphe „Dingoide“ nehmen das Thema der Gegenstände, die man scheinbar erkennt und aber bei genauerem Hinsehen gar nicht da sind auf und führen es weiter. Sie sind nicht mehr nur ein Spiel mit dem Bekannten, sondern auch mit dem Unbekannten. Seine Biomorphismen erinnern nicht nur an etwas, sie kündigen auch, weil sie zeugungsfähig sind, etwas an. Sie überschreiten ihre scheinbare Starrheit, ihr Leinwand-Gebanntsein, indem sie Ahnungen erzeugen. Matta schliesst mit seinen Gemälden nicht nur einen Schaffensprozess ab, sondern stösst ebenso einen neuen an. Im Betrachten seiner Werke soll etwas (im wörtlichen, materiellen Sinne) wachsen und neu entstehen. Matta nennt dies den „Oestrus“, den Raum in dem Ideen empfangen werden, wie die Eizelle das Spermium empfängt.
Sichtbar macht Matta den Oestrus in seinem Werk „Le fond“ aus dem Jahr 1966. Das Bild, das titulär sowohl auf den Boden, als auf den Grund verweist, zeigt eine Reihe zersprengter schwarzer Schalen, die an Eier erinnern. In ihrem Inneren glimmt gelbes Licht, teils Dotter, teils sich teilende Eizellen. Im Dotter der Eier vervielfältigt sich, was ausserhalb der Eier nur als Einzelnes angetroffen werden kann. Am rechten Bildrand der weisse Schweif lässt an ein Spermium denken. Zugleich aber vervielfältigt sich das Ei selbst, teilt sich in seine verschiedenen Momente, die ihrerseits zu neuen Zeugungsorten werden.
Wie die nicht-euklidischen Räume nutzt Matta auch den Vitalismus, um die Gleichzeitigkeit von Allem, von Aussen und Innen, von Vergehen und Werden, von Schöpfen und Vergessen darzustellen. Diese Absicht durchzieht sein Werk und führt Matta auch zur Erfindung des „Cube Ouvert“ – des offenen Würfels. Dessen Konstruktion ersann er, um dem Betrachter zu ermöglichen, in sieben Dimensionen zu denken. Der „Cube Ouvert“ bestand aus einer Reihe von Aufbauten, die je sechs Leinwände oder sonstige Werke zu einem Würfel konstellieren. Die ersten sechs Dimensionen sind die Seiten des Würfels: „Wir sind im Zentrum des Ereignis, von oben, von vorne, von rechts, von links, von unten, von hinten bombardiert uns die Realität!“. Die siebte Dimension jedoch ist der Betrachter selbst. Es reicht nicht zu sehen, was zu allen Seiten ist — erst wenn man sich als inmitten aller Dinge, als Teil von ihnen versteht, ist man ein Stück näher daran, sie wirklich zu sehen. „Die Rolle desjenigen, der zu sehen gibt“, sagt Matta, „ist, Betrachter dazu zu bringen, mehr von der Realität zu begreifen. Das Wort ‚Surrealismus‘ heisst nicht fantastische oder idiotische Geschichten zu erzählen, es heisst mehr von der Realität erfassen.“ — Und welcher Anspruch ähnelte dem der Wissenschaften mehr, als der, anderen „mehr von der Realität begreiflich zu machen“?
Epilog, 21. Jahrhundert: Wie Matta künftig ansehen?
Betreten wir unser Jahrhundert. Matta, der 2002 starb, erhielt noch eine kleine Ahnung von den Aufgaben, mit denen es sich herumschlagen müssen würde. Bevor wir uns mit der Flaschenpost beschäftigen, die Matta an seine Nachwelt abgeschickt hat, soll schnell noch ein kleine Notlüge offenbart werden, mit der die Autoren diesem Aufsatz seine episodische Klammer gegeben haben: Matta behauptete zwar, dass die Surrealisten ihn ausgeschlossen hätten, weil er vertreten hatte, dass Wissenschaft Poesie sei; aber das war in Wirklichkeit eine Ausrede. Tatsächlich hing sein Ausschluss mit dem Selbstmord des Surrealisten Arshile Gorky zusammen. Dieser war wegen unglücklicher Lebensumstände stark depressiv geworden und hatte in einem Anfall trunkener Tobsucht seine Frau die Treppe hinab gestossen. Die mißhandelte Frau verliess ihn daraufhin, hatte eine Affaire mit Matta; und Gorky nahm sich das Leben. Breton machte daraufhin Matta für den Tod Gorkys verantwortlich und verstieß ihn. So ungefähr lauten die wahren Umstände von Mattas Ausschluss von den Surrealisten; aber für unsere Zwecke ist Mattas Ausrede sehr viel erkenntnisträchtiger, als dieser Klatsch. Natürlich möchten wir aber, Wissenschaftler, die zu sein wir aspirieren, die Wahrheit dennoch erwähnen und den Leser demütig um Vergebung für diesen kleinen dramaturgischen Kniff bitten.
Zurück zur Gegenwart und zu Mattas Vermächtnis; zurück zu Wissenschaft und Kunst: Beide, Wissenschaft und Kunst befinden sich derzeit in einer Krise. Zum größten Teil ist sie einfach dadurch entstanden, dass sich sehr viel mehr Menschen im Betrieb tummeln, als vor fünfzig oder hundert Jahren — ohne dass sich aber die institutionellen Strukturen und das Selbstverständnis der Akteure angepasst hätten. In der Kunst ist das fataler noch, als in der Wissenschaft. Wissenschaftler konkurrieren lediglich mit anderen Wissenschaftlern um Anstellungen und Aufmerksamkeit. Künstler konkurrieren nicht nur mit Zeitgenossen, sondern auch mit toten Künstlern und deren Erbe um ein Stück des Kunstmarktes. Bezahlte Stellen, wie sie in der Wissenschaft zwar rar, aber dennoch vorhanden sind, gibt es in der Kunst schon gar nicht. Das Überangebot erzeugt in beiden Betrieben Moden und einen Sekundärbetrieb, dessen einziger Zweck darin besteht, Aufmerksamkeit zu erzeugen. Die Situation ist ernst.
Vorschläge, Abhilfe zu schaffen — zumindest erste Schritte zu einem moderneren Selbstverständnis von Künstlern — lassen sich bei Matta finden. Er schlägt vor, die Kunst sehr viel unabgehobener und tiefer im Leben selbst zu verorten, als es der bürgerliche Begriff von Kunst tut.
Das mit dem Bürgertum entstandene Kunstverständnis ist ja bis heute wesentlich durch seine Herkunft als Vergnügungsort der höheren Stände geprägt. Das Bürgertum hatte sich, wie wir uns erinnern, sein Verständnis davon, was Künstler taten von den exquisitesten und kostspieligsten Vergnügungen des Adels und den durchgeistigsten und tiefsten Darstellungen des Klerus abgeschaut. Dieser Nimbus der Kunst wurde durch das Bürgertum sogar noch gesteigert und haftet ihr bis heute an. Kunst gilt, ob sie es beansprucht oder nicht, als etwas Übernormales, Überlebensgroßes, Bedeutsames. Es ist dieser Nimbus, den Matta auf ein heiteres Menschenmaß zurück stutzt. Vielfach hat Matta behauptet, er sei gar kein Künstler. 1991 sagt er: „Ich kann überhaupt nichts über meine Malerei sagen, weil Kunst mich ganz generell nicht interessiert… ich male, damit ich nicht vergesse, wie mein Herz schlägt, die Bewegung der Wellen, der Galaxien…“
Mattas „kein Künstler sein“ ist keine Absage an die Kunst; es ist eine Absage an das bürgerliche Kunstverständnis. Wie wir gesehen haben, fallen für Matta „Kunst schaffen“ und „leben“ in wesentlichen Punkten ineins. Mit dieser Auffassung steht er dem französischen Arzt und Philosophen Georges Canguilhem sehr nahe, der in seinem Aufsatz „Das Experimentieren in der Tierbiologie“ (in „Die Erkenntnis des Lebens“) sagt, dass biologisches Experimentieren anders sei als das Experimentieren in der Physik. Und zwar, weil Organismen selbst die Ergebnisse von Experimenten der Natur seien. Dadurch rückt Canguilhem — sozusagen von der anderen Seite, der Seite der Wissenschaft herkommend — die zentrale wissenschaftliche Tätigkeit des Experimentierens ebenso in die Nähe des Wortes „leben“, wie Matta das „Kunst schaffen“; und es treffen sich Wissenschaft und Kunst noch einmal auf eine neue, sehr viel handfestere Art.
Diese Begegnung ist nicht mit Genialitäts-, Leistungs- und Konkurrenz-Ansprüchen und also letztlich Lebensferne überfrachtet. Mattas Kunstauffassung möchte das Lebensgrosse statt des Überlebensgrossen. Er will es, ohne beliebig zu werden (a la „alles ist Kunst“) und ohne den Genuss zu schmälern. Matta will den Genuss steigern. Er erklärt grundsätzlich alle genussfähigen Momente des Lebens zu kunstfähigen Momenten. Nicht jeder Moment, soll das heissen, wird Kunst gebären, aber jedem Moment eignet eine prinzipielle Fähigkeit dazu. Je informierter Dein Auge, desto eher wirst Du dem Moment die ihm innewohnende Kunst absehen und umsetzen können.
Ich bin, als Kind von Wissenschaftlern, mit der Formel „was man weiss ist gut“ aufgewachsen. Matta ergänzt: Was man weiss ist nicht nur gut; es ist auch potenziell schön.
Dies also ist Mattas Flaschenpost nicht nur an künftige Betrachter seiner Werke, sondern auch an künftige Künstler. Ich entkorke für die. Matta sagt: „Kultur besteht nicht darin, die kreativen Werke der Vergangenheit zu erinnern oder die Werke der Gegenwart zu feiern. Es sollte sein wie Agrikultur, die Kultivierung von Samen, so dass den Kindern echte Nahrung gegeben werden kann.
– Literatur (unvollständig, aber immerhin):
[^RamuntchoMatta01]: Ramuntcho Matta: Astral Fluctulations,” in: “Mattascopio,” Ediciones Universidad Catholica de Chile, Santiago 2013, p. 162-166
[^Matta1980]: Matta to Magie Image (1980s), in: «Who is Matta?, Matta & Magie Image,» ed. Oksana Salamatina, Gli Ori, Pistola 2019, p. 81
[^Carrasco1987]: Eduardo Carrasco, «Conversaciones,» Ediciones de Chile, Santiago 1987, p. 257
[^Ferrari]: Germana Ferrari (ed.), „Matta. Entretiens Morphologiques. Notebook no. 1 (1936–1944), London 1987, p. 117
[^Matta1991]: Conversation with Colombian poets Amparo Osorio and Gonzalo Márquez Cristo, Rome, 1991, Común Presencia magazine, Colombia, catálogo MAVI 11.11.11, Centro Cultural Palacio La Moneda, Santiago 2011
[^Sitte2003]: Willi Sitte. „Farben und Folgen. Eine Autobiographie“, Faber & Faber 2003
[^Inscapes]: Inscapes, 1938
[^Guattari]: Interview mit Guattari, S. 193
[^Flahutez]: Fabrice Flahutez. An Eye in the Microscope and Another in the Telescope. Roberto Matta and Sciences. HAL 2013
[^Janis41]: Sidney Janis : The School of Paris comes to US, in : Decision, vol. 2, no. 5-6, November-December 1941, New York, pp. 85-95.
[^Guattari]: Interview mit Guattari
[^Canguilhem1965]: Georges Canguilhem. Die Erkenntnis des Lebens, August Verlag Berlin, 2009
[^Coigitum]: Matta – Coigitum