Geschichte, Nicht kategorisiert

Bruttig

Eigentlich kommt die Familie meiner Mutter aus Bruttig. Bruttig war ein Winzerdorf an den östlichen Hängen der Mosel, etwa sieben Kilometer flussaufwärts von Cochem (heute heisst die Ortsgemeinde Bruttig-Fankel). Juden und Einheimische lebten hier im neunzehnten Jahrhundert problemlos beieinander. Die Juden, die zwar keinen Wein anbauen, wohl aber mit ihm handeln durften, wohnten mitten im Dorf und beschlossen, als ihre Zahl auf ca. 50 angewachsen war, eine eigene Synagoge zu errichten. Dies geschah im Jahr 1835.

Witzigerweise gehörte das Häuschen, das die Juden zu diesem Zwecke erwarben bis dato der katholischen Kirche. Die Katholiken nutzten es wohl als Speicher, vielleicht um Meßwein aufzubewahren. Wein, wie gesagt, ist ein starker Gott in Bruttig.

So kam es, dass die Synagoge vom selben Gemäuer war, wie die darüber sich wölbende Margarethenkirche. Symbolträchtig wirkt sie wie eine Art Untergeschoß für diese; und aber ist (nicht minder symbolträchtig) aus Bruchsteinen der Christen gefügt. Das schien in den Jahren, als sich die Lehren Gotthold Lessings unter Christen und die Moses Mendelssohns unter Juden verbreiteten, kein großes Ding mehr.

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Cochem

Mein Großvater Hans Hirsch war einer von etwa tausend Juden, die die Shoa in Berlin überlebten. Ursprünglich kam er aus Cochem, einem malerischen Füntausendseelenort an der Mosel. Seine Familie war um 1890 aus dem Nachbardorf Bruttig dahin gezogen und handelte wohl mit Wein. Einen anderen Erwerb gab die enge Gegend mit ihren steilen, brüchigen Schieferhängen schwerlich her.

Hans hatte einen jüngeren Bruder Heinrich. Beide zogen sie zur Franzosenhatz in den Krieg Nummero eins. Heinrich starb bei dieser Unternehmung. Er tat dies nur drei Tage vor Kriegsende, angelegentlich eines letzten, sinnlosen Scharmützels in der Nähe von Challerange in der Champagne. Hans überlebte.

Der Familienrat hatte noch vor dem Krieg beschlossen, dass er Arzt werden solle. Was Einträgliches, aber Nützliches. Ehrbar auch. Nach Kriegsende beendete Hans sein Studium, packte sein Ränzle und verliess, vermutlich nicht unfroh, der Enge Cochems zu entfliehen, die Heimat mit der Eisenbahn in Richtung Berlin.

Ja, Cochem verfügte damals schon über eine Eisenbahn. Sie war in den 1870ern gebaut worden, um Kanonen an die immer wieder aufflammende Franzosenfront karren zu können. Diese Kanonenbahn nahm Hans jedoch in die Frankreich abgewandte Richtung, in die wilde Reichshauptstadt. Dort wurde es Arzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten. Nach Cochem kehrte er nimmermehr zurück.

Spulen wir die Zeit vor. 2020. Wegen einer Seuche, der die Menschen den prosaischen Namen Covid19 gegeben haben (vergleiche mit der Namensgewalt „Pest“, „Diphterie“ oder „Cholera“), war es schwer geworden, weit zu reisen. So beschloss ich mit meiner Mutter, die Spuren ihrer Familie — also meiner; also jener Familie Hirsch — in Cochem zu verfolgen. Wir fuhren hin und sie (immer bestens vorbereitet) verabredete ein Treffen mit dem Stadtarchivar. Ein großer, wirklich netter und erstaunlich wissender Mann.

Er empfing uns im 300 Jahre alten Barockrathaus (das im wesentlichen nur noch Repräsentationszwecken dient, die Verwaltungsarbeit geschieht woanders). Dort lagern in einem Tresor Geburts- und Sterberegister, Landeignungskarten und so mancher, mit ehrfurchtgebietender Pedanterie geführte Foliant. Selten habe ich eine derartig tiefe Dankbarkeit gegen die Einrichtung des Beamtenstandes empfunden.

Tags zuvor hatten wir schon versucht, den Platz, auf dem das Haus meines Großvaters stand, zu finden. Es war uns anhand eines alten Photos (das oben zu sehen ist) ungefähr gelungen. Laut Photo stand das Haus wohl direkt am Fuße des Hausbergs von Cochem, dem Pinnerkreuzberg. Gleich hinter dem Haus konnte man seine steile Südflanke klimmen. Hans mochte das als Bub wohl mit seinen Freunden getan haben. Später, in der Zeit bevor die Deutschen sich mehrheitlich gewünscht hatten, von Nazis regiert zu werden, war er ein begeisterter Bergsteiger geworden, der mit Seil und Klampfe in die Alpen stieg. Meine (südliche?) Neigung zur Klampfe muss ich von ihm ererbt haben.

Befragt nach dem genaueren Platze des Hauses, berichtete der Archivar folgende Geschichte: Es hätten zwei Häuser am Fuße des Berges gestanden, beide aus jüdischem Besitz. Als er in den 70ern in das Amt des städtischen Grundstückwalters eintrat, beauftragte ihn die Stadt, jene Grundstücke zu erwerben. Es sei aber, so bedeutete man ihm, besonders im Falle des ersten Hauses keine ganz leichte Angelegenheit. So gewarnt studierte er die Akten und erfuhr, dass er nicht der erste war, der im Auftrage der Stadt jenes Grundstück zu erwerben begehrte.

Vor ihm war schon 1938 einer abgesandt worden. Dem sagte der jüdische Besitzer, er wünsche nicht, zu verkaufen. Tags drauf verschwand der Sohn des Hausbesitzers und kehrte wochenlang nicht heim. Nach gebührender Frist des Mürbemachens klopfte der nationalsozialistische Abgesandte der Stadt abermals an die Tür des Hauses. Ob er nun verkaufen wolle? Der Sohn würde im Falle einer positiven Antwort in den Schoß der Familie zurück kehren. Gut, erwiderte der Hauseigner, unter diesen Umständen willige er in die Transaktion ein. Der Kauf wurde getätigt und der Sohn kehrte wenige Tage darauf tatsächlich zurück. Per Post. In einer Urne.

Dergestalt war der Humor der Nazis. Nach dem Krieg wurde das Haus dem überlebenden Vorbesitzer rückerstattet. Es kam unseren Archivar nun bitter an, dass er abermals als Unterhändler der Stadt zu dem Manne sich begeben musste, um das Erwerbsverlangen nach diesem Grundstück zu vertreten. Erstaunlicherweise gab es wenig Komplikationen. Der Besitzer verkaufte ohne großes Feilschen. Das andere Haus war wohl einfacher zu erwerben. Viel habe ich nicht darüber erfahren. Seine Besitzer fehlten vielleicht, oder verkauften gern, ich weiss es nicht. Das war das Haus meines Großvaters.

Die Stadt riß beide Häuser ab und baute ein Parkhaus im brutalistischen Stil der 70er an den Platz. Eine rechte architektonische Missetat. Der nette Archivar hatte das Grundstück für diese Scheußlichkeit erworben; vermutlich ahnte er nicht, wie sehr sein Kauf zur Verhässlichung des Ortes beitragen würde. Viele andere Gebäude in Cochem (das im Krieg — der Kanonenbahn wegen — verhältnismäßig stark bombardiert worden war) wurden übrigens sehr schön wieder hergerichtet. Es ist durchaus eine Reise wert.

Mein Großvater Hans Hirsch überlebte, wie gesagt, neben Weltkrieg Nummer eins in Frankreich auch die Shoa mitten in Berlin. Naja. Was man so überleben nennt. 1961 tötete er sich selbst, indem er Zyankali schluckte. Heute nennt man das wohl posttraumatisches Belastungssyndrom. Die Wucht des Überlebens war zu viel für sein kluges, sanftes Herz.

Das Moseltal bei Cochem
Mein Großvater Hans Hirsch (links, mit Klampfe)
Cochem, Zentrum (Juli 2020)
Cochem, neuer jüdischer Friedhof, auf den Spuren der Familie Hirsch
Cochem, alter jüdischer Friedhof in der Gemarkung Knippwies (Juli 2020)
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