Zweite Seminarstunde: Die Sonderrechte der Opfer. Heimzahlungsideologien.
Nicht folgt aus dem Opfer-sein ein gerechtfertigter Anspruch auf Aggressivität, allgemeine Heimzahlung und wüstes Gebaren. Ich bin keine prinzipielle Gegnerin von Wildheit und Zerstörung. Es gibt bisweilen Gründe. Ich bin sehr dagegen, das mit Opfersein zu rechtfertigen. Opfersein begründet vieles, aber es rechtfertigt nichts.
Das liegt einerseits an der Subjektivität jedes Leids. Ich sage nur: Adolf Merckle. Der Mann verfügte über das unfassbare Vermögen von Zwölftausendmillionen Euro und entleibte sich auf dem Schienenstrang, weil er fünfhundert dieser Millionen durch Fehlspekulationen verloren hatte. Das war ihm Leids genug für den Strang. Das Niveau seines Leids, einerseits, wollte mancher gerne haben, andererseits, die Absolutheit der Konsequenz besehen, dann doch lieber keiner.
Das Beispiel soll demonstrieren helfen: Die Leichtigkeit der Gründe für lethales Leid kann bis ins Unwägbare sinken; es soll ja unter den Pythagoräern welche gegeben haben, die ihr Leben unlebenswert fanden, als sie erkannten, dass es Zahlen gibt, für die sich nicht alle Stellen nach dem Komma angeben lassen: Und nahmen den Strick. – Was das heisst: Dass jeder Schmerz privat ist; nicht sein Verursachendes bestimmt ihn (Hume schon hat festgestellt, dass nichts „eisenartiges“ in dem Schmerz sei, den man empfindet, wenn man sich mit einem Messer schneidet) – sondern die private Empfindungs-Skala.
Und da masst sich die Heimzahlungsideologie der zu-kurz-gekommenen etwas an, das ihr nicht zusteht. Was wissen sie von den Abgründen, die Einer vielleicht täglich durchtaucht, der doch eigentlich eine ganz gute Kinderstube geniessen durfte? Woher nehmen sie die Gewissheit, dass sie allein litten, weil es doch so offensichtliche Kränkungen und Zurücksetzungen in ihrem Leben gab? Ein Opfer hat kein Sonderrecht, zum Täter zu werden. Sicher, das Leiden will bemeistert sein. Am Besten ist, man kann es produktiv machen. Wut ist ein guter Motor. – Alles geschenkt. Aber nicht wahr ist, wie gesagt, daß ein Leid eine Berechtigung ist.
Das Leben fällt niemandem leicht, nichteinmal im Kommunismus. Einzelne Aspekte des Lebens können erleichtert werden, sinnlose „Reibungsverluste“ vermieden, sich-abstrampeln für Selbstverständlichkeiten: Sofort falle ich bei, da liessen sich ungezählte Umstände verbessern. Aber die wesentliche Aufgabe, nämlich das Leben zu bemeistern, die bleibt am Grunde jeder Epoche konstant bestehen und sie wird durch die herrschenden Umstände, das ist ihre Eigentümlichkeit, um kein Jota erleichtert. Nicht um den kleinsten Deut.
Es mögen sich die Namen der Schwierigkeiten ändern, aber sie werden von ihren Bewältigern immer als existenziell bedrohlich empfunden werden; es wird immer als Elend gelten, ein Leben zu führen, das unter seinen Möglichkeiten bleibt.
“Sonderrechte der Opfer”: verallgemeinern wir. Man kann seine Handlungen lediglich begründen, und auch das eher schlecht. Rechtfertigen, freisprechen oder verdammen, das können nur andere. Sicher, man muss seinen Kompass haben. Aber ob er richtig geht oder falsch, das kann man nicht bestimmen oder sogar einfordern. Rechtfertigung ist Konsens, Begründung ist privat. Recht, um es einmal gerade zu sagen, Recht ist immer Gnade, aber Gnade ist nie auch ein Recht.
Nero hätte Ihnen unbedingt zugestimmt.