Nachdenklichkeiten

Weisse Quadrate. Von der Kunst über Kunst zu urteilen

Mein Freund und Hirnteiler Felix Bartels fragte mich jüngst anläßlich des Lobster-Awards, ob ästhetische Urteile objektivierbar wären. “Nein”, antwortete ich ohne Zögern.

Noch indem ich dieses „Nein“ aussprach, war der Drang in mir entstanden, es auch zu begründen. Deswegen setzte ich sogleich hinzu, dass ästhetische Urteile allenfalls größere Gültigkeit erreichen könnten, indem sich ästhetischer Genuß und rationale Durchdringung eines Werkes wechselseitig erhöhten. Gültigkeit wiederum äussere sich als Nachvollziehbarkeit, Wohlstrukturiertheit und Komplexität einer Urteilsbegründung. — Etwas an dieser aus der Hüfte geschossenen Begründung fühlte sich unvollständig, wo nicht falsch an. Nun weiss ich, was es war. Ich bleibe beim “Nein”, aber inbetreff der Gültigkeit will ich im Folgenden einiges berichtigen und erweitern.

Drei Argumente plane ich vorzutragen:

(1) Erstens, die Auffassung von ästhetischer Wirkung kritsierend, die der Frage zugrunde liegt.

(2) Zweitens, die gesellschaftliche Praxis betonend, in die jegliche Kunst betten muss.

(3) Drittens, über Gültigkeit und den Drang handelnd, andere vom eigenen ästhetischen Urteil zu überzeugen.

Erstens. Ad Kunstauffassung.

Die Frage nach der Objektivierbarkeit ästhetischer Urteile erkundigt sich nicht allein danach, ob künstlerischen Gegenständen Eigenschaften zugesprochen werden könnten, die messbar sind, wie zum Beispiel die Geschwindigkeit eines Teilchens – Eigenschaften mithin, in denen ihr ästhetischer Wert sich ausdrückt – sondern auch danach, wie ästhetischer Wert überhaupt zustande kommt?

Man kann darauf antworten, dass der ästhetsische Wert sich im Tauschwert realisiere, den ein Kunstwerk erzielt. Das wäre in etwa die Auffassung des Kunstmarktes. Diese Auffassung wurde vielfach kritisiert, weswegen ich sie einmal zurück stellen möchte; ich komme aber weiter unten auf sie zu reden.

Hier will ich eine einfache Idee des Zustandekommens ästhetischer Werte geben und vor allem deren Konsequenzen ausführen. Ich meine, der ästhetische Wert eines Werkes realisiert sich in der Wirkung, die ein Werk im Betrachter – oder Hörer, Leser etc – im Kunstgeniesser also, auslöst.

Die Bestimmung eines Werkes ist deshalb nicht, andere Werke zu übertreffen, sondern vermittels seines Genusses Wirkung zu entfachen. Meine Behauptung lautet nun, dass, so man diese Idee vom Zustandekommen ästhetischer Wirkung teilt, die Frage nach der Objektivierbarkeit ästhetischen Urteilens ganz falsch ist; dass sie sich gar nicht stellt.

Am einfachsten lässt sich diese Folgerung illustrieren, wenn wir uns erinnern, wie unser eigenes ästhetisches Urteil sich im Verlauf unseres Lebens geändert hat. Als Kinder oder Jugendliche haben wir andere Musik wertgeschätzt, andere Bilder bewundert, in anderen Romanen geschwelgt, als wir es als Erwachsene tun; und eigentlich würde ich ungern der Hoffnung entsagen, dass wir das ganze Leben fortfahren, hinzu zu lernen.

Daraus abzuleiten, unser Urteil wäre als Kind falscher, denn als Erwachsener, scheint mir vorschnell und vor allem dem Bestreben geschuldet, die Gültigkeit und Überlegenheit unserer gegenwärtigen, vielleicht auch mühsam erarbeiteten Urteile vor jenen kindlichen zu wahren, nur weil die einfacher zu haben waren. Dabei liesse sich leicht das Gegenteil vertreten: Es ist durchaus möglich, dass wir als Kinder oder Jugendliche grössere Wirkung eines Werkes empfunden haben. Mit welchem Recht bestritten wir nun dieser Wirkung ihren ästhetischen Rang? Und, wesentlicher noch, müssen wir nicht in unseren kindlichen Urteilen die Knospe erblicken, aus dem sich unser heutiges Schätzungs- und Genussvermögen entfaltet hat – überhaupt nur entfalten konnte? Ist nicht dieses Voraussetzung für jenes? Und hat nicht die Kunst unserer Kindheit selbst, durch den Umgang mit ihr, diese Entfaltung nur bewirken können? Was also sollen Rangfolgen von Urteilen überhaupt?

Man erkennt, worauf ich hinaus will. Kunstgenuss und das Aneignen von Erfahrung im Kunstgeniessen zielen überhaupt nicht auf gesteigerte Objektivität unserer Urteile. — Objektivität ist immer eine Flucht fort vom Subjekt. Das ist ihr Sinn: Unabhängikeit vom Subjekt und seinen Meinungen und seiner Fallibilität. Kunst nun, indem sie ästhetische Wirkung ausübt, will das genaue Gegenteil dieser Bewegung. Kunst, und die Auseinandersetzung mit ihr, verlangt nach Entfaltung des Individuums; verlangt nach Entfaltung und bewirkt sie überhaupt. Je mehr Kunst das Subjekt kennt, versteht und geniesst, desto mehr wird es überhaupt Individuum. Es bildet immer neue Facetten des Kunstverständnisses, Blickwinkel, aus denen die Kunst ins Leben spielt, Gesichtspunkte, unter denen Kunst sich auffassen und geniessen lässt; Verständnis für komplexere Formen und ihre Angemessenheit an einen Inhalt. Kunst ist die Bewegung hin zum Individuum.

Nicht schafft Kunst das Allgemeine; sie schafft, im Gegenteil, das Besondere. Alle Kunstgeniesser erkennen einander; und sie erkennen einander daran, dass ihre Urteile sich unterscheiden! Es ist ja Eigenheit gerade des ungebildeten Kunsturteils, gleichförmig zu sein. (Der Aufdruck “Bestseller” gilt dem Kenner als Warnung. Manchmal freilich ist er trotzdem geniessbar, vorausgesetzt, man schreckt ihn kurz mit kochendem Wasser ab.)

Es liegt daran, dass die ästhetische Wirkung eines Werkes nie ohne das Zutun des Individumms stattfinden könnte. Die Wirkung eines Kunstwerkes entsteht durch die private, ganz eigene Inbezugsetzung des Kunstgeniessenden zum Werk. Anders ist Kunstwirkung – und mit ihr, ästhetisches Urteilen – überhaupt nicht zu haben.

Es geht dabei nicht nur um das Auffassen einer im Werk verschlüsselten Information (wie manche Kunsttheoretiker meinten), sondern, noch umfassender, um eine Art der Selbstwerdung. Zum Selbst gehören einmal unsere ästhetischen Vorlieben und Urteile; sie können sich nicht anders bilden, als im Umgang mit schönen und hässlichen Dingen. Unterschiede der Schönheit sind Unterschiede in unserer Seele, oder, wem das altschöne Wort “Seele” nicht behagt, dem mögen sie als kunstumgangsgebildete Beschaffenheit unseres Selbst gelten. Mithin ist ein ästhetisches Urteil nicht Audruck einer Sache ausser uns – Eigenschaft eines Kunstwerkes etwa – sondern Ausdruck unserer Seelenbildung. Dies ist mein hauptsächlicher Gedanke, und wer keine Lust verspürt, Addenden zu studieren, darf die Lektüre an dieser Stelle getrost beenden. Der Rest dieser Ausführung ist nämlich im Grunde nur noch Entfaltung des Gesagten.

Den Weiterlesenden: Sobald einmal begriffen ist, daß Schönheit nurmehr ein Unterscheidungsvermögen ist, beginnt die Frage nach der Objektivierbarkeit ästhetischen Urteilens ganz seltsam zu scheinen. Im Grunde lautet diese Frage nämlich: Wie objektiv ist das Subjekt? So dialektisch die Frage auch klingt, so blödsinnig ist sie in dieser Formulierung und diesem Zusammenhang. Wir scheiden das Subjektive ja vom Objektiven, um das zu trennen, an dessen Existenz wir tätig mitwirken müssen von dem, das unserer Mitwirkung überhoben sein soll. Wie weit diese Scheidung trägt, mag dahin stehen und kann meinetwegen Anstoss zu einem philsophischen Betracht sein. Aber danach fragt die Objektivierbarkeit ästhetischen Urteilens nicht; sie erkundigt sich nur, wohin – Scheidung des Subjektiven vom Objektiven bereits voraus gesetzt – wohin dann ästhetische Urteile ordneten?

Zweitens. Ad gesellschaftliche Praxis.

Nun ist alle Kunst unzweifelhaft Ausdruck und Hervorbringung einer bestimmten gesellschaftlichen Praxis. Abgelöst von der betrachtete man sie unter unserer Behandlungsebene und begriffe sie also nicht zur Hälfte. Ästhtisches Urteilen, meint das, ist an einen situativen und gesellschaftlichen Zusammenhang gebunden. Der situative Zusammenhang liegt in der Gesamtheit aller Situationen, in denen kunsthafte Gegenstände hergestellt, verhandelt, aufgeführt, genossen etc. werden.

Von der gesellschaftlichen Praxis habe ich bereits anderswo sehr allgemein geschrieben, es seien ganz einfach die in der jeweiligen Zeit als künstlerisch anerkannten Zusammenhänge. In diesem Aufsatz will ich ein bisschen genauer werden. Einfacher Startpunkt aber sei: Kunst ist, was ein Künstler macht. Wer ein Künstler ist, bestimmt die Gesellschaft, indem sie ihn als einen Künstler ansieht und was er tut, als Kunst. Die Bestimmung dieses Berufs und seiner Hervorbringungen war zu jeder Epoche etwas unterschiedlich, jedoch waren es stets Gegenstände von ästhetischem Wert, deren Herstellung man von den Künstlern erwartete.

Es spielte nun für die innere Beschaffenheit der Kunstprodukte eine Rolle, welche gesellschaftliche Funktion sie ausübten. Nehmen wir die Malerei: Kirchenmalereien sollten von der Macht und Herrlichkeit Gottes künden und die religiösen Mythen überliefern. Hofmalerei war Audruck des Bestrebens der Herrschenden, ihren Hof zu verschönern; ihn zu einem besonderen Ort zu machen; andere Höfe zu übertreffen. In Kirchenmalerei und Hofkunst angelegt war bereits die politsche Kunst, die einer Meinung, einer Partei oder einem Staat diente und von diesen Institutionen veranlasst und bezahlt wurde. Schliesslich die statthabende Marktkunst, deren gesellschaftlicher Ort weder Kirche, noch Hof, noch Partei – sondern der Kunstmarkt ist. Das Kunstwerk tritt in ihm als ein Spekulationsgegenstand auf, als besondere Ware, sehr ähnlich einer Aktie. Pferdewette, Kunstverstand und Herdentrieb gehen in ihm eine eigentümliche Menage a trois ein.

Ich skizziere diese Zusammenhänge mit grobem Pinselstrich, um eines zu verdeutlichen: Der Drang, verschiedene Kunstwerke in Rangfolgen zu bringen und gegeneinander zu beziehen, ist zu größtem Teile ausserkünstlerischer Herkunft! Er kommt aus der gesellschaftlichen Praxis, in welcher Kunst verhandelt wird. Kirche und Hof stufen die Künstler nach ihrer Fähigkeit, von der Großartigkeit Gottes zu künden oder einen Hof vor anderen auszuzeichnen. Gleiches gilt für die ideologische Kunst, die ihre Künstler danach wägt, wie gut sie politische Werte sinnfällig machen können und wie klar sie eine weltanschauliche Linie vertreten.

Der Kunstmarkt schließlich lebt von nichts anderem, als der metaphysischen Meinung, ein ästhetischer Wert wäre im Kunstwerk selbst enthalten und realisiere sich im Tausch. Ich hatte angekündigt, darauf zu kommen: Wir leben im Zeitalter der Marktkunst. Es fällt uns deshalb äußerst schwer, den Gedanken zu verwerfen, es sei im Werk ein ästhetischer Wert an ihmselbst.

Dieser Gedanke ist die Grundlage aller zeitgenössischen Kunstauffassung. Er existierte aber, wie gesagt, in abgeschwächter Form schon an den Höfen und davor, noch stärker abgeschwächt, in den Kirchen. Es leuchtet jedoch ein, daß er unheimlich an Macht gewinnen mußte, als große Kunstsammlungen und -gallerien entstanden und miteinander in Wettstreit traten (wie Briefmarkensammlungen – und wo läge deren ästhetischer Wert?); als große Konzert- und Theaterhäuser gebaut wurden und fortan Kosten verursachten und betrieben werden mussten; als der Beruf des Kritikers und Kunstjournalisten mit den Zeitungen aufkam und auf Berechtigung bestand; als Buchverlage zu profitablen und miteinander konkurrierenden Unternehmen wurden; als Musikstücke wie Pferde auf der Rennbahn in Verkaufscharts gegeneinander antraten.

Und so weiter. Wenn es wesentliche gesellschaftliche Praxis ist, soll diese erratische Aufzählung demonstrieren, Kunst so zu handhaben, als eigne ihr ein intrinsischer Wert, ist der Schluß nur allzu naheliegend, es sei dieser Wert auch ihr ästhetischer Wert. Beziehungsweise, verallgemeinernd, es wäre ästhetischer Wert eine Eigenschaft, die kunsthaften Gegenständen zu allen Zeiten an sich selbst eigne.

Geht man aber erst dieser Götzenmacherei auf den Leim, ist der Schritt zur objektiven Beschaffenheit ästhetischer Urteile nurmehr klein. Unsere Wahrnehmung, es verhielte sich so, ist, wie wir sehen, eine Verwechslung von der gesellschaftlichen Gebundenheit aller Kunst mit ihrer Eigenart, ästhetische Urteile herauszufordern.

Ich wäre nun arg mißbegriffen, würde man diese Zeilen als radikale Verneinung von ästhetischen Werten an sich lesen. Natürlich, es gibt einmal keine Kunst ausserhalb ihrer gesellschaftlichen Praxis. Man kann von einem gesellschaftlich vermittelten Ding nicht behaupten, es sei ein anderes, als eben jenes, als das es vermittelt wird. Der König bleibt so lange König, wie alle so tun, als wäre er König. Es ist nur, wollte ich bedeuten, viel weniger das könighafte oder majestetische an ihm, das ihn zum König macht, als die gesellschaftliche Übereinkunft.

Trotzdem besteht die Botschaft dieses Kapitels in der Behauptung, dass mir die Frage nach der Objektivierung ästhetischer Urteile als ein genuines Denkproblem der Moderne vorkommt. Genauer zu sein, als eines, das mit dem Kapitalismus aufkam. Historisch hat das aufkommende Bürgertum einen eigenen Kunstumgang entwickelt, der zunächst weniger im Handel, als vielmehr in Geniekult und der Erfindung neuer Aufführungs- und Verbreitungsmethoden bestand. Kunstumgang und Geschmacksbildung fanden zuerst ihre Hauptinspiration beim Adel und deren Hofkünstlern; wo auch sonst hätte das Bürgertum sich heraufbilden sollen, es gab ja wenig anderes.

Das Bürgertum versuchte zunächst, den Adel zu übertrumpfen: Indem es „freiere“ Gedanken bei seinen Schriftstellern zuliess (freier hiess: Gedanken, die dem Bürgertum frommten, weil sie dessen Berufenheit zur Menschheitsvertretung bewiesen); indem es mehr und grössere Aufführungsstätten errichtete (Gallerien, Konzerthäuser, öffentliche Bibliotheken); indem es effizientere Produktionsmethoden (maschineller Buchdruck, Berufsorchester, synthetische Farben etc.). Diese Entwicklungen waren die materiellen Grundlagen der heutigen Marktkunst. Durch sie wurde Arbeit in die Kunst gesteckt und weil wiederhin Arbeit der universell wertschaffende Prozess überhaupt ist, wurde die Kunst mit Wert aufgeladen. Das Bürgertum, mit anderen Worten, hat in die Kunst investiert. Was Wunder, wenn es diese Investition, nach ihrer Kunstwerdung, als ästhetischen Wert ansah?

Sicherlich auch, und das mag wesentlicher noch sein, ging der Erfindung der Marktkunst schon eine mythische Auffassung von Kunst als einer Vergegenständlichung ästhetischer Werte voraus. Weil eben die bis dato herrschenden Adligen bereits Kunst ebenso als wertvoll behandelten, wie beispielsweise Gold – das auch keinen Wert an sich besitzt – lag es nahe, Kunst als eine andere Art Gold anzusehen. Vom Golde aber ist längst bekannt – und im Aufkommen des Papiergeldes ein für alle mal öffentlich eingestanden – dass es nur einen Wert hat, wenn die Gesellschaft sich darauf einigt (von seinem Gebrauchswert als Rohstoff für bestimmte Produkte, wie zB. Kontaktdrähte in der Mikroelektronik, sehen wir einmal ab). Warum sollte diese Art der Wertbildung nicht auch in einem Kunstwerk liegen? Das Bürgertum, das nun einmal den Wert schlechthin als etwas ansieht, das sich im Tausch realisiert, konnte gar nicht anders, als den ästhetischen Wert eines Kunstwertes auf eben diese Weise zu verstehen. Francis Bacon, weil seine Gemälde die teuersten sind, war der größte Künstler ever. Das kommt dabei heraus.

Wie eingangs bedeutet liegen allen diesen Auffassungen zweierley Ideen zugrunde: Erstens, dass ästhetischer Wert sich im Vergleich zweier verschiedener Kunstwerke – anstatt durch Wirkung eines künstlerischen Gegenstands im Kunstgeniessenden – realisiere. Und zweitens, dass ästhetisches Urteilen die Eigenschaften eines Werkes an sich selbst zum Inhalt hat, anstatt die Wirkung, die es in seiner gesellschaftlichen Rolle auf ein (historisches) Individuum ausübt.

Drittens. Ad Gültigkeit.

Anfolgt ein längeres Kapitel, das den beiden Fragen sich widmet: Erstens, was es heissen kann, dass ein ästhetisches Urteil Gültigkeit hätte? Zweitens, warum wir andere von der Gültigkeit unserer Urteile überzeugen wollen?

Als Kriterien der Gültigkeit eines Urteils habe ich einleitend Nachvollziehbarkeit und Ausgefeiltheit seiner Begründung genannt. (Hinzu könnte ich nach allgemeinem Verständnis noch die handwerkliche Gutgemachtheit eines Kunstwerks nehmen. Am Handwerk allerdings ist problematisch, dass unklar bleibt, wie seine Gutgemachtheit behauptet werden könnte, ohne vom ästhetischen Wert schon Gebrauch zu machen. Dazu weiter unten.)

Was meint Nachvollziehbarkeit? – Nicht meint sie ein intellektuelles Begreifen des Urteils. Stattdessen bezeichnet sie eine Art des Augenöffnens. Von einem Kunstwerk, dessen ästhetische Beurteilung wir nachvollziehen, sagen wir: “Jetzt sehe ich auch, was Du siehst!” Wir empfinden eine Schönheit, deren Vorhandensein uns ohne den Nachvollzug des Urteils verborgen geblieben wäre.

Nachvollziehbare ästhetische Urteile sind wie Stadtführer in unbekannten Städten. Durch sie wird unsere Aufmerksamkeit auf wesentliche oder interessante Punkte geleitet; durch sie wird aus einer uns fremden Sache eine Sache, die aneigenbar wird und also die Möglichkeit bietet, Genuss zu spenden. Natürlich kann man fremde Städte auch ohne Stadtführer geniessen. Aber der Genuß bleibt zwangsläufig unverständiger und die Wahrscheinlichkeit ist hoch, daß wir vieles nicht sehen, und es, indem wir blind und taub daran vorbei gehen, ungenossen lassen.

(Es gibt natürlich, dies sei eingeräumt, geniale Geniesser, die einer Stadt ganz ohne fremden Fingerzeig neue Plätze und Stimmungen abgewinnen können. Vielleicht werden deren Urteile dereinst zu klassischen Urteilen, weil sie etwas zuvor Unentdecktes in einem Werk gefunden haben. Wenn sie es werden, bezeugt dies vor allem die Nachvollziehbarkeit ihres ästhetischen Urteils.)

Soviel zur Nachvollziehbarkeit. Die andere Sache, die Ausgefeiltheit oder Überfeinerung der Begründung eines ästhetischen Urteils also, sei derart bestimmt, dass sie eine Art der Kennerschaft meint. Ein Mensch, der regelmässigen und intensiven Umgang mit Kunst pflegt, kann durch Erfahrung und Vergleich zu einem gut geschulten Kunstverstand gelangen. Das wird ihn natürlich nicht vor Einschätzungen schützen, die anderen verstiegen oder ganz abseitig vorkommen, aber unser Kenner ist immerhin, um im Bild des Stadtführers zu bleiben, ein Mensch, der sich in den meisten fremden Städten gut zurecht finden wird. Seine allgemeine Orts-, Kultur- und Geschichtskenntnis ist so groß, dass wenige Städte ihm gänzlich fremd sein werden; er hat von fast allen Sehenswürdigkeiten schon mindestens gehört, ist weltläufig im Umgang mit fremden Menschen und Kulturen und weiss ungefähr, wann er zuhören und wann reden muss. Die Urteile solcher kunstkundigen Menschen sind seltener unüberlegt und haben öfter eine wohlstrukturierte Rechtfertigung. Häufig sind sie auch, zumindest zu einem gewissen Grade, im genannten Sinne gut nachvollziehbar.

Wiefern nun sind wir, da Nachvollziehbarkeit und Ausgefeiltheit von Begründungen ästhetischer Urteile eine nähere Bestimmung erfahren haben, berechtigt, nachvollziehbare und ausgefeilte Urteile “gültig” zu heissen?

Gültigkeit zielt, sieht man nun, auf eine Praxis des Unterweisens ab. Nachvollziehbarkeit und Ausgefeiltheit von Begründungen spielen hauptsächlich bei der Weitergabe und Behandlung von Wissen eine Rolle. Werturteile, die unterweisbar sind, können – dergestalt von Generation zu Generation weiter gegeben – mit einer gewissen Stabilität durch die Zeit gehen. Nichts anderes meint Gültigkeit.

Objektiv werden Urteile dadurch natürlich nicht. Ganz im Gegenteil. Kunstunterweisung ist letztlich Geschmacksbildung. Ich möchte vermuten, wenngleich nicht unbedingt mich drauf versteifen, dass alles, was einer Bildung bedarf, ein Ding eher der Herstellung als der Entdeckung ist. Wäre aber der ästhetische Wert eines Werkes etwas durch den Geschmack des Kunstgeniessenden Hergstelltes, könnte es unmöglich noch etwas rein Objektives sein; Herstellung bedarf notwendig des Subjektes. Was dann lediglich an der stabilen Unterweisbarkeit eines Urteils sich bewiese, wäre nicht seine Objektivierbarkeit – sondern Effizienz und Erfolg einer Lehrmethode oder Schule.

Oha! Spätestens an dieser Stelle wird mir kein Leser noch folgen mögen. Goethe also sei gültiger als – sagen wir Günter Grass – weil er nach besseren (effizienteren, erfolgreicheren) Methoden vermittelt war?! Welcher Methodenunterschied sollte das denn sein; werden nicht beide Dichter ganz nach den selben Methoden unterrichtet – nämlich als Pflichtlektüre in der Schule? – Ich könnte natürlich auch umgekehrt das Argument gegen sich selbst kehren: Prokowjew wäre gültiger als Dieter Bohlen, allein, weil er ein paar Jahrzehnte länger als ästhetischer Wert sich unterweisen liess? Nicht vielleicht, weil er bessere Musik komponierte?

Ich muss mich, dieses Mißverständnis auszuräumen, verständlicher machen. Lehrmethode oder Schule – das sind nicht die alltäglichen Dinge, als die sie erscheinen. Stabile Unterweisbarkeit – das meint nicht nur, dass ein Kunstwerk von einer Generation auf die nächste kommt, und dergestalt von einer jeden für sich aktualisiert würde. Das auch; aber das nicht allein. Jede stabile Unterweisbarkeit – jede Schule – meint eigentlich die Einrichtung eines eigenen, sich selbst erhaltenden Diskurses. Solch ein Diskurs ist ein stabiles soziales Konstrukt, in dessen Zentrum die Weitergabe bestimmter Werte steht. Man erkennt es an der simplen Frage: Wer geniesst Goethe vor Grass? Wer Prokowjew vor Bohlen? Es sind bestimmte soziale Schichten, für die derlei gilt. Sie nehmen ihr Urteil für gültig – weil es tatsächlich, als Wertzentrum eines Diskurses nämlich, sich als gültig bereits erwiesen hat. Sie haben, mit anderen Worten, die Gültigkeit ihres ästhetischen Urteils nicht entdeckt, sondern hergestellt; nehmen es aber als ein entdecktes. Ein ästhetisches Urteil, lernen wir aus dem, vermag einen Wert herzustellen, der das Zentrum eines Diskurses macht (Dawkins hätte gesagt, ein „Mem“); es ist im Übrigen deshalb ein Wert, der gemeinhin im Verbund mit anderen Werten auftritt und nicht isoliert an einem Kunstwerk. Der gleiche Wert tritt an anderen – deshalb ebenfalls wertgeschätzten – Kunstwerken auf und er kommt überdies verschwistert mit anderen Werten, die gar nicht aufs künstlerische abzielen, sondern aufs gesellschaftliche und zwischenmenschliche. Ästhetische Werte treten immer als Wertsippe auf.

Aber verweilen wir noch kurz bei den Diskursen und sozialen Schichten. Wer geniesst denn nun den Prokowjew vor Bohlen? Es sind in der Regel wohlunterrichtete Schichten des Bürgertums; oft kennen die aber von Prokowjew nur „Peter und der Wolf“. Manchmal auch noch die „Liebe zu den drei Orangen“. Ich bin mir nicht sicher, ob sie andere Werke von Prokowjew schätzen; besonders dort, wo sie atonaler werden, scheint mir die Vermittelbarkeit des Prokowjewschen Werkes auch in den wohlunterrichteten bürgerlichen Schichten stark zu schwinden. Man sieht es an den Spielplänen der Konzerthäuser.

Damit nicht genug. Ich verdächtige auch manchen Prokowjew-Schätzer, dass zu dessen Jugendsünden das enthemmte Mitsingen von Bohlens „Cherry Cherry Lady“ gehört und er dabei heftiger abging, als beim andächtigen Lauschen darauf, wie der beherzte Peter den tumben Wolf überlistete. – Worauf das hinaus laufen soll: Darauf, dass bestimmte „gültige“ Urteile nur von bestimmten Menschen gefällt werden und selbst dann noch, als reine Sozialisierungsmasche seltsam anfechtbar scheinen. Natürlich möchte ich Prokowjew vor Bohlen – aber jenseits von Sozialisationsgewohnheit und Wertdiskursen ist es nicht ganz leicht begründbar. Es lässt sich diese Rangfolge auch nur solchen vermitteln, die überhaupt gewillt und gewohnt sind, mit Musik in einer Weise umzugehen, die über das passive Rezipieren hinaus geht; die, mit anderen Worten, Unterweisung und Seelenbildung erhalten und erhalten möchten.

Was aber stimmt mich optimistisch, dass – sofern einer Unterweisung und Seelenbildung erhielte – er im Resultat dieser Bildung Prokowjew dem Bohlen verzöge? Ist dieser Optimismus nicht doch ein Hinweis auf einen objektiv vorhandenen höheren ästhetischen Gehalt dieser Werke vor jenen? – Jetzt kann ich eine stärkere Begründung meiner Schul-Idee geben: Es wäre falsch, von diesem Optimismus auf den ästhetischen Gehalt von Werken zu schliessen. Wir beobachten lediglich einen bestimmten ästhetischen Werdegang des Menschen, der fast stereotyp bei jeder ästhetischen Bildung sich ereignet. Wir beobachten die Wirksamkeit einer Schule! Jede Kunstbegegnung beginnt mit einfacheren Werken; Werken, die in der jeweiligen Kunstsorte (Musik, Malerei, Literatur etc.) und in der jeweiligen Form ohne grosse Vorbildung sich geniessen lassen (Form: Oper, Lied, Gemälde, Graphik, Roman, Gedicht etc.). Die ersten Werke sind, wenn man will, Vorbildung.

In unseren ersten Kunstbegegnungen vermittelt sich zuerst einmal nicht mehr, als das Vorhandensein verschiedener Sorten und Formen von Kunst; ihr ästhetischer Gehalt liegt aber zunächst nur in einem fast passiven Genuss. Auf dieser Stufe bleiben viele Menschen, so ihnen keine weitere Kunstbildung angedeiht, Zeit ihres Lebens stehen. In unserer Zeit der Marktkunst bemerken sie ihren Stillstand nicht einmal und also nicht ihre unerfolgte Seelenbildung; der Markt liefert ihnen ja ständig neue Werke, die passiv rezipierbar sind (ein gewisses Maß Mitwirkung ist immer erfordert, das ist nunmal der Mechanismus ästhetischer Wirkung.) Es muß auch so sein, denn der Markt, um größtmöglichen Gewinn zu erzeugen, verlangt nach massenhafter Rezeption eines Werkes. Dann klingelt die Kasse. Also darf sein Genuss nicht zu viel Aufwand und Vorbildung erheischen.

Das ist nicht ganz richtig formuliert. Nicht tritt der Markt als ein Verderber der Massen auf, mit dem Ziel, in grossen Mengen Schund zu verkaufen. Es verhält sich eher umgekehrt. Die Massen, weil es ihnen an ästhetischer Bildung mangelt, wählen unter den angebotenen Werken des Marktes jene, die sie ohne große Umstände rezipieren können. Darin liegt das Erfolgsgeheimnis des Filmes und der Pop-Musik. Nicht der Markt also ist der Verderber, sondern – wir erinnern uns – ein Diskurs, in dessen Zentrum Wertarmut herrscht. Bzw. ein Diskurs, der rudimentäre, unausgereifte Werte, Ansätze zu Werten vermittelt. Wären die Massen kunstverständiger, würde der Markt ihnen eben anspruchsvollere Werke liefern. Dem Markt ist die Qualität herzlich egal. Natürlich tendiert er zur Verringerung der Anfertigungskosten und zur Erhöhung der Preise. Aber letztlich ist ihm alles, das für einen höheren Preis sich verkaufen als herstellen lässt, recht.

(Die Frage stellt sich, wiefern der Geschmack der Massen nivellierend auf das ästhetische Urteil wirkt; wiefern also Menschen, die sich selbst als besonders kunstverständig ansehen, geringschätzig vom massenhaft rezipierten denken – egal, wieviel Kunstbildung allgemein herrscht?)

Die Frage an den Rand notiert, handeln wir lieber weiter zum ästhetischen Werdegang; den hatten wir noch nicht zu Ende besprochen. Bleiben wir zur Illustration bei der Musik. Am Anfang jedes Musikgeschmackes stehen schlichte Weisen, kleine Lieder, kurze Stücke, Gesungenes lieber als rein Instrumentelles und so fort. Beispiele sind Volkslieder, Blasmusik, Schlager, Pop, Peter und der Wolf, Mozarts kleine Nachtmusik. Wofern die musikalische Bildung nun weiter geht, und nicht, wie leider an der Regel, an dieser Stelle abbricht, werden die Stücke länger, das Gesungene darf auch wegfallen, es können komplexere musikalische Strukturen gewürdigt werden. Beispiele sind Peter und der Wolf, klassische Oper, klassisches Ballet, Operette, Musical, Musikalben, Mozarts kleine Nachtmusik.

Grund dafür, dass Peter und der Wolf/Mozarts kleine Nachtmusik in beiden Kategorien auftreten, ist die einfache Tatsache, dass beides Werke sind, die sich auf unterschiedlichen Ebenen rezipieren lassen. Hier greift die Metapher vom Stadtführer sehr, nunja, ohrenfällig. Mit der musikalischen Bildung wächst die Fähigkeit, Eigenschaften eines Werkes zu erkennen und in der Folge zu genieesen, die ohne diese Bildung verborgen bleiben. Ein Kind versteht an Peter und der Wolf zuerst nur die Geschichte. Die Musik ist ihm nur wenig mehr als ein Erkennungsmotiv der Protagonisten. Ein Jugendlicher mag dann schon die Originalität der musikalischen Themen wertschätzen, und – gerade bei den Themen der gefiederten Helden, Vogel und Ente – deren melodische Finesse bewundern und geniessen.

Schliesslich wird der Hörer auch noch die Genialität der Instrumentierung und Stimmführung würdigen können und den inneren Zusammenhang und Bezug entdecken, den die Themen aufeinander nehmen. Allgemeiner gesagt, bildet sich im Hörer eine gesteigerte Fähigkeit, Schönheit zu entdecken und in immer subtilere und tiefere Schichten von Kunstwerken vorzudringen. Er wird nun auch Musik wertschätzen und geniessen können, die ihm als Kind ganz unsinnig, lärmend und wenig kunstreich vorgekommen sein wird. Vielleicht hört er leidenschaftlich Hindemith oder Matthus. Möglicherweise entzücken ihn Charli Parker oder Miles Davis. Kann auch sein, er hört lieber Mathcore oder Meshuggah. Vielleicht auch hat er das alles vielfach und ernsthaft probiert und bleibt doch lieber bei der Klassik oder der klassischen Moderne, bei Mahler oder Schostakowitsch oder Schönberg. Manche landen bei Wagner. Aber man hat, nach ein, zwei Jahrzehnten der Auseinandersetzung mit und Aneignung von Musik in jedem Fall ein ausgeprägteres ästhetisches Empfinden und mit dem die Fähigkeit erworben, ästhetische Urteile zu fällen und nachvollziehbar und ausgefeilt zu begründen.

So stellt sich, und bis hier habe ich dem Leser vermutlich wenig Neues gesagt, ein ästhetischer Werdegang auf Seiten des Kunstgeniessenden dar. Das Verblüffende aber an diesem Werdegang, der sich so oder so ähnlich in jedem Kunst-Adepten vollzieht, ist, dass er im Grunde nur die selbe Entwicklung auf Seiten der Künstler nachvollzieht! Allein im 20. Jahrhundert hat die Musik vier Neugeburten erfahren, deren jeder Lebenslauf sich vom einfachen Kinderlied bis hin zur Vergreisung in Nichtnachvollziehbarkeit vollzog. Das waren: Die Klassik, die am Eingang des 20. Jahrhunderts bereits zur Spätromantik erblüht war und dann in klassischer Moderne, Moderne und schliesslich neuer Musik ihre Vergreisung und Zersplitterung erlebte. Zweitens, der Jazz, der als einfache New Orleans Blasmusik ins Leben trat und innerhalb nur weniger Jahrzehnte in einer unfassbar rasanten Reifung und Alterung zu einer vergleichbaren Komplexität der Formen und Klänge sich entwickelte, wie die Klassik. Drittens, der Rock & Roll, der ebenfalls in Form fröhlicher Kinderweisen ins Leben trat und sich dann in Pop und Rock und deren kaum noch herzählbare Unterformen erst entfaltete und dann aushauchte. Viertens, schliesslich, die elektronische Musik, die noch primitiver, als die anderen drei – als reiner Rhytmus nämlich – ihre Geburt erlebte und erst später mit Melodie und Harmonie sich aufgeladen hat. Sie erlebt just dieser Jahre ihr Verenden, das sich, wie in den drei anderen Entwicklungsbögen auch, einerseits als Zersplitterung in tausend Unterarten und andererseits als der Wiederholung des Immergleichen äussert.

Man kann nun einwenden, es wären diese Entwicklungsbögen in Wirklichkeit keine, weil nicht das musikalische Material (Melodie, Harmonie, Rhytmus), sondern bestenfalls der Klang sich geändert hätte. Mein Gegenargument lautet: Was wäre Musik, wenn nicht letztlich – Klang? Melodie, Harmonie, Rhytmus – das sind nur Kategorien, um die Struktur von Klängen beschreibbar zu machen. Der Einwand, mithin, verdeutlicht lediglich, dass diese Kategorien nicht ausreichen. Hinzu kommt eben, was die Musiker als „Sound“ bezeichnen; hinzu kommt ferner, was sie als „feeling“ bezeichnen und noch eine Menge anderer subtiler Parameter, die (infolge der Erfindung der Notenschrift) in der klassischen Musiktheorie vernachlässigt sind. (Im Übrigen würde ich auch erhebliche Unterschiede hinsichtlich des Rhytmus’ behaupten.)

Worauf nun dieses langatmige Aufzeigen der Entwicklung – sowohl der Kunstformen, als auch ihres Genusses – abzielen: Erstens, darauf, dass das Publikum in seinen ästhetischen Urteilen immer zu einem gewissen Grad die Entwicklung der Künste nachvollzieht. Es ist ein ständiges Begreifenwollen (im Sinne eines Geniessenwollens) am Werke. Ästhetische Urteile entdecken, mit anderen Worten, Linien und Zusammenhänge zwischen Künstlern und ihren Werken. In diesem Sinne – im Sinne des Nachvollzugs von (Kunst)Geschichte letztlich – eignet ihnen tatsächlich etwas Objektives; soweit Geschichte etwas Objektives sein kann. Der zweite Punkt, den die Entwicklung des ästhetischen Urteils beim Publikum und der ästhetischen Massgaben beim Künstler beweisen, ist denn auch, dass ästhetische Werte Urteile sind, die ihrem Wesen nach auf Entwicklung abzielen. Künstler, Kunst, Kunstgeniesser und Kunstkritik, bzw -urteil bilden einen Zirkel ständiger Unterweisung; ästhetisches Urteilen ist kein Feststellen eines Sachbestandes, sondern das Befördern eines Werdens. Eine Sache aber, deren Bestand in der Entwicklung durch die Menschen liegt, kann schlechterdings gleichzeitig objektiv sein.

Soweit zur Gültigkeit. Kommen wir noch zur zweiten Frage dieses langen Kapitels: Warum liegt uns so viel daran, die Gültigkeit unserer eigenen ästhetischen Urteile zu beweisen? Woher die Leidenschaft, dieses Werk vor jenes zu stellen; diesen Künstler über jenen zu stufen; diese Schönheit zu propagieren und jene zu bestreiten?

Ehrlich gesagt weiss ich darauf keine gute Antwort. Es könnte uns ja ganz gleich sein, was andere von diesem oder jenem Werk halten; davon sollte unser eigenes Geniessen nicht betroffen und unser gefestigtes Selbst ganz unbeeindruckt sein. So aber ist es nicht. Uns verdriesst, wenn wir unser Schönheitsempfinden nicht mitteilen können, oder wenn jemand, ärger noch, unseren Geschmack beleidigt.

Ich gebe drei Vermutungen, wie diese Sachlage sich begründen liesse. Erstens: Es könnte daran liegen, dass ästhetische Urteile nicht Dinge an uns sind, sondern tatsächlich unser Selbst ausmachen. Das Vermögen, Schönheit zu empfinden, bzw. Schönes von Häßlichem zu sondern, ist keine einfache Fähigkeit, wie etwa die, ein Instrument zu spielen, oder ein Handwerk auszuüben. Es handelt sich nicht um eine technische Fertigkeit, sondern um die Ausdifferenzierung dessen, was wir als „ich“ empfinden.

Das Ich hat immer ein Bestreben, sich zu vermitteln. Deshalb dürsten wir nach Liebe; deshalb suchen wir Gesellschaft; deshalb vermitteln wir unser ästhetisches Urteil. Deshalb auch ist möglich, daß ästhetische Urteile eine Wichtigkeit erlangen, die bis in das Wert-Zentrum sozialer Diskurse dringt. Sie sind ein definitorisches Moment unseres Selbst; sie gehören zu unserem Ich-Konzept; sie machen, was wir an uns selbst lieben können und folglich auch an anderen. Vorausgesetzt, sie teilen unsere ästhetischen Vorlieben, doh!

Meine zweite Vermutung über den Grund unseres Dranges, andere zu den eigenen ästhetische Werten zu bekehren, besteht in der Verallgemeinerung der Schiller’schen Idee, dass Kunst „leben üben“ sei. Das zielt nun weniger auf unsere allgemeine Fähigkeit Schönes von Hässlichem zu unterscheiden, als auf die Funktion von Kunst und die Frage, warum wir Kunst brauchen und wertschätzen. Ich finde die Idee überzeugend, Kunst stelle einen speziellen Rahmen, innerhalb dessen Lebenssituationen erprobt oder mindestens erfühlt werden können. Es sind dies beispielsweise Lebenssituationen, die uns Angst machen (tatsächlich halte ich Angst für nichts anderes, als die Unfähigkeit, eine vorgefühlte oder vorgestellte Lebenssituation zu bewältigen); oder umgekehrt Lebenssituationen, die etwas Erwünschtes darstellen (fast wie eine Beschwörung, es möge durch seine Darstellung eintreten); Situationen letztlich, in denen wir uns starken Gefühlen ausliefern, ohne dass gleichzeitig, wie sonst im Leben, ein ernsthafter und folgenschwerer Grund für sie vorhanden sein müsste. Kunst ist Spiel. Wir können, das ist der Vorteil der Kunst, nach belieben in ihr Reich eintreten oder es verlassen.

Kein ernsthafter Grund? Eben darin liegt die Crux. Natürlich ist selbst das aufwühlendste Musikerlebnis nicht der Erschütterung vergleichbar, die eine Geburt oder ein Sterbefall auslöst. Aber so viel schwächer ist die Stärke kunstsinnigen Fühlens dann auch nicht. Kunsterlebnisse können ein Leben in seinen Grundfesten erschüttern und es in andere Bahnen lenken. Das Weitergeben ästhetischer Urteile ist nicht allein ein Vermitteln von Werten, es ist auch eine Aufforderung, sich Gefühlen und Eindrücken auszusetzen, von deren starker Wirkung man weiss. Es ist, mit anderen Worten, die menschliche Entsprechung des Balgens von Löwenjungen, von spielerischen Situationen also, deren Durchleben uns auf das wahre Leben einstimmt und vorbereitet; aber auch unsere Empathiefähigkeit trainiert; unsere Wahrnehmung für die Vielschichtigkeit von Phänomenen schärft; die – mitunter durch Chaos und Durchschütteln! – Ordnung und Klarheit in unseren Gedanken stiftet.

Unser Eifer, Kunst und mit ihr Urteile über Kunst zu vermitteln, lässt sich also als eine Teil unseres ganz allgemeinen didaktischen Bedürfnisses fassen. Weil wir eben zur Erzeugung starker Gemütsbewegung fähig sind (sowohl als Künstler, wie auch als Kunstgeniesser), können wir – indem wir uns ihr wohlbedacht aussetzen – unsere Lebensintensität und -erfahrung steigern. Die Steigerung liegt darin, dass wir, anstatt dem Leben nur ausgeliefert zu sein, uns in der Kunst freiwillig ausliefern. Diese Freiwilligkeit ist der Menschen Privileg; sich einer starken Gemütsregung ausliefern, statt sie zu erleiden, steigert sie; und diese Steigerung, meine ich schliesslich, ist ein starker Grund für ihre Wichtigkeit. Ich schliesse mich hier Whitehead an, der als wichtigste Eigenschaft des Lebens das Streben nach Erfahrungsintensität nannte.

Drittens schliesslich. Das ist mein schwächster Grund, aber ich will ihn wenigstens gesagt haben. Drittens also meine ich, dass ästhetische Urteile ein ganz exzellentes Sozialisations-Substrat abgeben. – Was ein Sozialisationssubstrat sei? Im Grunde alles, was Menschen stellvertretend dafür tun, einander zu lausen oder zu füttern: Übers Wetter schwätzen, oder den Nachbarn, oder einen Unglücksfall oder einen Skandal; prahlen, streiten, witzeln, drohen… kurz, jedes Radotieren, bei dem es weniger um den Inhalt, als letztlich um das wechselseitige zueinander-Bezug-setzen geht. – Als Affen noch hatten wir Menschen keine Kunst und stritten selten über ästhetische Urteile. Aber wir stritten. Und vertrugen uns. Wir trieben in den Urwäldern Afrikas Menschheits-Vorgeschichte, überfielen einander und bissen uns, kuschelten uns ineinander, kopulierten und mutierten ein paar Jahrmillionen vor uns hin. Bis eben, als wir aufgrund einer besonders folgenreichen Genverschlingung begannen, Werkzeuge zu machen, Menschen aus uns wurden.

Vieles hat sich seither geändert, aber nicht alles. Der Mensch ist immer noch ein Herdentier; weil es ihm aber peinlich ist oder unschicklich scheint, dem auf die selbe Weise nachzugehen, wie sein Ahn, der Aff’, tut er’s verschämter und sublimer. Anstatt einander zu lausen, sitzen Menschen in Konzerthäusern und reden nachher über das Erlebte. Mehr ist möglicherweise nicht am ästhetischen Urteilen. Mehr also nicht in unserem Drang, ästhetische Urteile zu verbreiten, als Sozialisation.

Natürlich wäre das in gewisser Hinsicht niederschmetternd und wenig schmeichelhaft. Was der Mensch doch als Menschlichstes an sich begreift, soll nichts sein, als die sublimierte Fassung des ganz profanen Miteinanderumgehens? Ästhetisches Urteilen nur eine Form des Lausens, Kakelns und Kreischens?

Ich sage ja nur, dass es denkbar wäre. Ich gebe auch zu, dass diese Denunziation des ästhetischen Urteilens wenig erkenntnisträchtig ist. Denn was liesse sich aus ihr folgern? Könnte man ähnliches nicht von allem behaupten, was Menschen tun? In der Tat ist ja Sigmund Freuds Verdächtigung, alle Gesellschaftlichkeit des Menschen sei letztlich bloß Triebverdrängung, von genau der selben mickrigen Fruchtbarkeit und Begründungskraft wie die Idee vom ästhetischen Urteil als Sozialisationssubstrat. Was wir an dieser bekritteln, müssen wir, billig genug, auch an jener verwerfen.

Immerhin eignet sich die Idee, es sei ästhetisches Urteilen nichts als Sozialisationssubstrat, gar nicht schlecht zur Begründung, unsere Leute von anderen auch gern anhand ihrer ästhetischen Urteile zu unterscheiden. Unsere mögen, was wir mögen, während die anderen irgendeinem Dreck Schönheit nachsagen. Unsere lausen wir, die anderen werden gebissen. Alles, was wir einem Urteil begründend andichten, wäre in dieser Sicht nichts als Rechtfertigung unserer Sozialisationsgewohnheiten. Deshalb würde sich Musik zum Beispiel gut als Ausweis der Zugehörigkeit zu einer Subkultur, bzw. zum Abgrenzen gegen andere Subkulturen eignen. Usw. usf.

Wie gesagt, ich halte diese Sicht für fahl, verhässlichend und wenig erkenntnisstiftend. Es ist aber gerade deshalb, dass sie sich den allzuschnell Bodenhaftung verlierenden Betrachtungen, in denen das Kunsthafte immer ikarusgleich zum Numinosen aufflattert, gut entgegen setzen lässt. Etwas Sozialisation wird wohl dran sein, am ästhetischen Urteilen. Gewiss, darin erschöpft es sich nicht. Aber ich habe eine überzeugende Demonstration dieser Seite der ästhetischen Urteile besichtigen dürfen, als in den Jahren 1989/1990 die DDR verschwand und mit ihr der gesamte Literatur-Diskurs, der sich in ihr heran gebildet hatte. Schriftsteller waren in der DDR durchaus vielbeachtete Leute; ihre Schriften wurden quer durch die gesamte Bevökerung rezipiert, nach subversiven Anspielungen und Weltbedeutendem durchsucht und diskutiert. Zwangsläufig eignete diesen Debatten auch immer ein Aspekt des ästhetischen Urteilens und Vergleichens der Kunstfertigkeit oder Gutgemachtheit von Werken. Dieses Literaturdiskutieren war in der DDR zu einer Normalität geworden und brach dennoch mit ihrem Untergang schlagartig ab. Gleiches ereignete sich in der UdSSR. Das allgemeine ästhetische Radotieren kehrte seither nicht wieder zurück. Woraus folgert, dass ästhetisches Urteilen kein einfaches Grundbedürfnis des Menschen ist und keine zwingende oder ausschliessliche Folge des Kunstumgangs. Vielmehr bettet es in eine gesellschaftliche Praxis, in welcher der Kunst und dem Umgang mit ihr bestimmte Rollen zukommen. Legt man die DDR-Zeit und die Jetztzeit gegeneinander, wird klar, dass seither der normale Tratsch das ästhetische Urteilen ersetzt hat; dass, was vorher als Echauffieren über Literatur sich äusserte, nun als Empörung über das Wetter oder einen Streik der Lokführer sich äussert. Dies als Hinweis, dass was dran ist, an dieser profanen Seite ästhetischen Urteilens.

Wo wir gerade dabei sind, das ästhetische Urteilen auf sein irdisches Maß zu stutzen: Der Zusammenhang eignet sich sehr, eine letzte Sache in diesem Kapitel kurz zu behandeln. Dies ist die Idee von Walter Benjamin, es eigne Original-Kunstwerken eine „Aura“, die ein besonderes ästhetisches Erleben und Urteilen begründen könne. „Aura“, damit meinte Benjamin dies und jenes; ich nehme es hier als Eigenschaft ästhetisch wirkender Gegenstände, nicht nur vermittels ihrer Erscheinung Eindruck auf den Betrachter auszuüben, sondern auch umgekehrt, dem Betrachter die Möglichkeit zu geben, sich selbst in solchen Gegenständen wieder zu entdecken. Ich habe anderswo (hier und hier) und in allgemeineren als Kunstzusammenhängen von Erscheinungen behauptet, dass ihre Sonderung von dem, was wir Wesen nennen, Willkür sei; wie man die Welt ansähe, so blinzle sie eben zurück. Benjamin nun meint, dass im Zugestehen einer besonders anmutigen Art des Zurückblinzelns eben jene „Aura“ entstünde; nur schöne Dinge könnten auf diese Art unseren suchenden Blick erwidern und beschenken.

Das ist zwar Quatsch, aber immerhin reizvoller und irgendwie sympathischer Quatsch. Quatsch ist es trotzdem, weil Benjamin eine Art des Auffassens, bzw. des sich-in-Bezug-setzens, zur Eigenschaft eines Werks umdeutet. Das ist nicht nur Essentialismus und Hypostase und Fetisch und um ein weiteres, leidiges Mal die Idee des ästhetischen Wertes am Werk selbst; es ist auch, witzigerweise, Projektion von Projektion und deshalb eben reizvoll. Benjamin weiss, dass Schönheit zu einem Gutteil durch Projektion entsteht, wenn in einer Sache etwas längst in uns schlummerndes Konkretisierung und Ausprägung erfährt; und er vollbringt dann das Kabinettstückchen, diese Projektion – als Aura – noch einmal zu projizieren. Aus einem aktiven Verhältnis, das der Kunstgeniesser zum Werk einnimmt, macht er ein Vermögen des Werkes; er faltet ihm als Potenz ein, was in Wirklichkeit ein Tun, ein Entdecken, ein sich-Bilden ist. Ein Historiker würde, was Benjamin tat, vermutlich eine magische Handlung heissen.

Ich bin jetzt einmal übertrieben trennscharf, um die Quintessenz meiner Kritik und meiner Anschauung in diesem Aufsatz zu verdeutlichen: Kunst ist gesellschaftlicher, während ästhetisches Urteilen privater Zusammenhang ist. Genauer gesagt ist Kunst der gesellschaftliche Zusammenhang, in dem Gegenstände, die ästhetisch aufgefasst werden können, hergestellt, zirkuliert und dargeboten werden. Von diesem gesellschaftlichen Eingebettetsein aller Kunst unangefochten bleibt die Tatsache, dass ihre ästhetische Wirkung immer erst im privaten Inbezugsetzen zur Kunst konkretisiert wird. Diese Konkretisierung stelle ich mir ganz ähnlich der Benjaminschen Verschränkung von Wahrnehmung und Projektion vor.

Es ist nun eben der Fehler Benjamins – und fast aller, die irgendwie mit der Frage nach ästhetischen Urteilen sich beschäftigt haben – den gesellschaftlichen und den privaten Zusammenhang munter durcheinander zu werfen. Von dieser Durcheinanderwerfung kommen fast alle Verwirrungen des Gebietes.

Und Handwerk? Was ist mit dem Handwerk?

Vergehe ich mich zum Schluß am letzten Refugium jener, die sich von der Objektivität ästhetischen Urteilens nicht lösen wollen: Dem Handwerk. Gute Kunst, was auch immer sonst man von ihr hielte, sagen jene, müsse im Mindesten gut gemacht sein. In der handwerklichen Qualität ihrer Ausführung läge ein objektivierbarer ästhetischer Wert am Kunstwerk selbst. Kunst sagen sie, kommt von können.

Was aber heisst es, dass ein Kunstwerk handwerklich gut ausgeführt sei? Worin offenbaren sich Tugenden wie: Sorgfalt, Meisterschaft, Geschick, Zweckmässigkeit, Übereinstimmung von Inhalt und Form etc. einer Anfertigung – wenn nicht in ihrer Wirkung; wenn nicht in ihrem ästhetischen Wert?

Ein Komponist könnte nun mit einem musiktheoretischen Werk ankommen; ein Dichter mit einer Verslehre; ein Maler mit einer Farb- und Formenlehre usw. – und behaupten, dass in solchen Werken die objektiven Kriterien des jeweiligen Handwerks aufgeschrieben seien. Daran ist mehrerlei falsch:

Erstens faßt es die Angelegenheit vom verkehrten Ende. Die innere Struktur von Kunstwerken – nichts anderes findet sich in kunsttheoretischen Büchern – ist immer erst in einer nachgeordneten Analyse vorhandener Kunstwerke entdeckt worden. So sehr die Maßgaben der Kunst – nach ihrer Destillation aus den Werken – als Anleitung zur Herstellung weiterer Werke dienen mochten, es gingen ihrer Abfassung stets ästhetische Urteile voraus! Das Bestreben ihrer Verfasser lag darin, die allgemeinen Prinzipien zu entdecken, deren Durchführung in Kunstwerken, die schon als Meisterwerke galten, sichtbar wird. Nicht also gibt das kunsttheoretische Werk einen Leitfaden für objektiv schöne Werke, sondern es zeigt lediglich, wie Werke, die bereits als schön gelten, aufgebaut sind. Auch für die Kunsttheorie gilt, beiläufig, das oben gesagte von Vermittelbarkeit und Ausgefeiltheit. Nicht selten veraltet ein Geschmack und mit ihm seine kunsttheoretischen Werke.

Zweitens weiß jeder Künstler, daß die Kunst eben darin liegt, die bestehenden Regeln „gekonnt“ zu überschreiten. Wer Kunst nach dem Lehrbuch anfertigt, wird langweilige, bestenfalls gefällige, artige Werke schaffen. Dem Kunstverständigen gelten solche Werke oft – trotz ihrer handwerklichen Gutgemachtheit! – als geist- oder phantasielos. Ästhetisch gilt das makellos Gemachte nicht als makellos.

Aus dieser bekannten Tatsache eröffnet sich abermals, daß ästhetisches Urteilen auf eine Bewegung des Geniessens abzielt anstatt auf einen ultimativen Stillstand. Nichts anderes als endlichen Stillstand würde ja die Rede vom objektiven Urteil implizieren: Dass, nach Statthabe aller Kunstdiskussionen und Ausfechten aller Debatten eine klare Rangordnung aller Kunstgegenstände sich ergäbe, welche ihren objektiven Wert widerspiegelt. Selbst, wenn diese Rangodnung eine große Menge sehr verschiedener Parameter berücksichtigen sollte (Expressivität, Originalität, Formvollendung etc.), wäre doch hinsichtlich eines jeden Parameters eine Rangordnung möglich. Sollte jemand hiervon abweichend über ein Werk urteilen, hiesse das lediglich, dass er noch nicht gelernt hätte, die objektiv vorhandenen ästhetischen Werte zu erkennen und zu geniessen. Ultimativ aber würde alles Urteilen auf diese letzte, objektive ästhetische Wahrheit hinaus laufen. – Dies ist, nach dem oben gesagten, gerade nicht der Fall. Jeder Genuss verlangt nach Steigerung, jede ästhetische Richtung nach Differenzierung; jede Regel will eine Ausnahme! Jede als reizvoll empfundene Ausnahme will zum Grund einer neuen Regel sich erwachsen. Der handwerkliche Makel wird zur Schönheit.

Es ist, wie man ganz allgemein ersieht, nicht möglich, vom guten Handwerk zu reden, ohne bereits Gebrauch von ästhetischen Werten machen. Handwerk ist ohne das nicht beurteilbar.

Ich will zu guter Letzt ein geläufiges Beispiel geben. Stellen wir uns vor, ein zeitgenössischer Maler hätte ein weisses Quadrat gemalt. Wie würde dieses Werk wohl beurteilt? Das Gros der Kritiker würde vermutlich irgendwo zwischen ziemlich unbeeindruckt und wenig ergriffen sein. Manche würden das weisse Quadrat verreißen und viele als einer gesonderten Besprechung unwert ansehen. Gut. Ein paar ganz exaltierte Spezialisten sind immer, die das als „konsequent“ loben oder als „Verweigerung“ oder „Unkunst“, aber dem würden vermutlich auch sie zustimmen, dass es nie den Rang einer „Nachtwache“ erhalten und auch nicht deren Wirkung je erzielen wird. Handwerklich wird man es weit unter Rembrandt oder sonst einen berühmten Meister setzen. Allenfalls die Idee des Quadrates könnte ein gewisses Gefallen erregen, aber sinnlich wäre es mager. An weissen Quadraten exemplifiziere sich der zeitgenössische übertriebene Hang zur Idee und zum Effekt. Die Kunst von heute wäre mit Botschaft übrfrachtet. Es wäre begrüssenswert, wenn endlich wieder Werke geschaffen würden, die ohne Gebrauchsanleitung genossen werden könnten. Wenigstens müsse die Gebrauchsanleitung für weisse Quadrate Waschzettelgrösse nicht überschreiten. Indes das eigentlich künstlerische, das Handwerk nämlich, sei bis zum minimal möglichen verkümmert. Weisse Quadrate könne im Grunde jeder malen, wenngleich, das gäbe man zu, nicht jeder auf die Idee verfallen ist und eben deshalb auch nicht jeder eins gemalt hätte. Zum Glück.

Soweit, so bekannt. Stellen wir uns nun aber weiter vor, es würde künftig in der Welt ein spiritueller Siegeszug des Zen-Buddhismus statt haben. Die Menschen wären der Verkaufsgesellschaft überdrüssig oder fänden sich durch die schiere Bevölkerungszahl zum Umdenken gezwungen. Ich bin im Zen-Buddhismus ganz und gar unbewandert und habe lediglich die vage Vorstellung von ihm, dass er ganz auf Verzicht, Reduktion und Konzentration auf den Augenblick abstellt. Er legt viel Wert auf Meditation und innere Sammlung und propagiert eine Höherschätzung dieser Geisteszustände. Möglicherweise tut diese Ansehung dem Zen-Buddhismus grobes Unrecht und ist schlichtweg Mumpitz, aber für die Entwicklung unseres Gedanken spielt nur die Vorstellung eine Rolle, dass eine Wertanschauung ungefähr dieser Sorte künftig Macht und Einfluss gewinnt.

Was nämlich geschähe mit unserem weissen Quadrat? Jetzt wird es Ihnen sicher dämmern. Es erführe im Zuge dieser Umwertung großer Teile der allgemeinen Weltanschauung eine grundlegende ästhetische Neubewertung. Plötzlich würde es als ein klassisches Werk der Reduktion gelten. In ihm fände man den vollendeten Verzicht. Übereinstimmung würde herrschen, dass der Künstler ein Visionär gewesen sein muß, der in seinen Werken die großartige Segnung der Gegenwart vorweg nahm. Und nun kommt, worauf ich hinaus will: Auch das Handwerk des weissen Quadrates würde als gediegen und exquisit gelten. Plötzlich entdeckte man, dass in seinem Weiß auch angedeutete Nuancen von grau, umbra, taubenblau und einem sehr blassen granatviolett sich fänden. Natürlich träten diese minimalen Variationen des Nichts nur beim meditativen Sichversenken in die Bildbetrachtung zu Tage. Dann aber gewönnen sie ihr Eigenleben und entfalteten einen ganz eigenen Sog; in diesen unfassbar sublimen Weissvariationen würde schliesslich mehr Erbauung und Weltenschau findbar als in allen plump-gegenständlichen Gemälden.

Ich weiss, Sie wollen mir nicht glauben. Niemals könnte ein weisses Quadrat künstlerisch vor Bosch, Michelangelo, Goya, Liebermann, Schiele, Dix oder Grosz gelten. Es sei eine überhypothetische Spinnerey. Mag sein. Es geht nicht um die Erwartbarkeit dieses Falles oder seinen Realismus. Es geht um die innere Mechanik des ästhetischen Werturteils, die an ihm sichtbar wird. Was als klassisch gilt, was als gutgemacht; was als Handwerk Zuspruch findet, was Genuss spendet: All das bettet stets in ein umfassenderes Ensemble von Werten, die kulturell – das heisst zwischen Menschen – verhandelt werden. Mehr, als diese Verhandelbarkeit ästhetischer Urteile habe ich in diesem Aufsatz fast nicht behauptet. Darin, dass sie verhandelbar sein müssen liegt aber auch schon ihre gesamte Objektivität.

Ja, das Beispiel der weissen Quadrate ist sicher etwas abgegriffen. Und ja, es gibt das Theaterstück „Kunst“ von Yasmina Reza mit eben diesem Bild-Bild. Möglicherweise hätte ich ein originelleres Beispiel ersinnen sollen. Eine Glasscheibe – als Gemälde. Ein einzelnes Photon, gefangen in einer Quantenkavität – als Unbeobachtbares, dennoch Vorhandenes. Der gähnende Schlund einer Frauenhandtasche – als das gefrässiges Nichts. Und so weiter. Sicher, die Galerien der Welt sind gepflastert mit weissen Quadraten. Ersonnene Dinge wären zwar lustiger, aber weniger instruktiv. Weisse Quadrate sind gerade wegen ihrer Ubiquität – jeder Zeichenblock hält ihrer Dutzende bereit – geeignet, das Eingebettetsein ästhetischer Urteile in ein gesellschaftliches Gesamt zu illustrieren. Der Unterschied zu Reza’s Stück liegt darin, dass ich nicht allein den Kunstmarkt (bzw. die Marktkunst) meine. Den auch. Aber ich rede doch sehr viel allgemeiner von den inneren Mechanismen ästhetischer Urteile. Es geht nicht um irgendwelche „Kunsteunuchen“ (Hacks), denen der Markt ins Hirn geschissen hätte, sondern darum, dass ästhetische Urteile nur eine spezielle Sorte von Werturteilen sind und als solche stets in Urteilssippen auftreten. Gerade weil weisse Quadrate so einfach sind, lässt sich dieser nicht-triviale Sachverhalt hervorragend anhand ihrer demonstrieren. Sie lenken nicht ab. Vorausgesetzt natürlich, sie sind gut gemacht.

Das Ringen um die Superiorität dieses oder jenes Urteils, sieht man also, ist letztlich nicht verschieden vom Ringen um kulturelle Werte überhaupt. Kultur entsteht immer als Kampf von Wertgebäuden. Nicht in ihrer Durchsetzung sondern in ihrem Bezug widereinander formen sich Geschmack und Urteilsvermögen. Man kann über Geschmack nicht nur streiten; man muss! Ohne diesen Streit gäbe es gar keinen Geschmack. Es gäbe nur eine Konvention, der man gehorchte oder nicht. In dem Moment, da der erste Mensch einer Konvention seine Folgsamkeit durch ein Urteil des nicht-Gefallens rechtfertigte, entstand Geschmack. Und mit dem der Mensch, wie wir ihn kennen, und selbst einer zu sein wünschen.

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3 Gedanken zu “Weisse Quadrate. Von der Kunst über Kunst zu urteilen

  1. Vom Golde aber ist längst bekannt – und im Aufkommen des Papiergeldes ein für alle mal öffentlich eingestanden – dass es nur einen Wert hat, wenn die Gesellschaft sich darauf einigt (von seinem Gebrauchswert als Rohstoff für bestimmte Produkte, wie zB. Kontaktdrähte in der Mikroelektronik, sehen wir einmal ab).

    Nein, der Wert leitet sich nicht aus gesellschaftlicher Konvention ab, sondern aus den Reproduktionskosten. (Es wird als Grundstoff nicht produziert, sondern abgebaut, aber für die Werterhebung ist das gleichgültig.)

    Eine Banknote ist ein Kreditbrief.

  2. Pingback: Bewerbungen und andere verpasste Chancen: Über die Messbarkeit von Qualitäten. | Nachdenklichkeiten einer Krankenschwester

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