Was ist das eigentlich für ein Drang, die DDR verurteilen zu wollen? Im Grunde ist es sehr einfach. Es ist der Drang, sich nicht eingestehen zu müssen, dass die DDR eine direkte Folge des zweiten Weltkrieges war. Die Weigerung, in ihr die monströse Ausführung von Kants „selbstverschuldeter Unmündigkeit“ zu erblicken. Alle Verurteilung dieser Sache ist nichts als Sehnsucht, sie als etwas Fremdes abstossen zu können. Etwas, das der „Russe“, der „Kommunist“ oder irgendein nostalgieverstrahlter „DDR-Bürger“ verbrochen habe; keinesfalls aber der aufgeklärte, demokratische, liberale Deutsche.
Allein der Ausdruck von den „beiden deutschen Diktaturen“ ist eine Freudsche Meisterleistung. Wie man weiss, sind die Nazis auf demokratischem Wege zur Macht gekommen, während die DDR – wer Hitler wählt, wählt den Krieg! – in der Folge dieses Krieges von Moskaus Gnaden existierte; also, wenn überhaupt, eine sowjetische Diktatur war. Aber zum Zwecke der Abstossung, der Leugnung, dass es die eigene, freie Wahl war; zu diesem Zweck muss das beides gleichförmig in eine fremde Schuld verwandelt werden, wogegen sodann eine Bewegung der Distanzierung und Reinwaschung einsetzen kann.
Das tief-in-sich-Tragen der DDR begründet natürlich auch die Vehemenz der Diskussion, die Einseitigkeit der Wahrnehmung und das Mühen, alles auf einen rationalen Nenner zu bringen (keine freien Wahlen, Mauertote etc.). Im Grunde ist es ein altes Lied. Die Durchführung von Politik als ein Handwerk des Schuldigenmachens ist nichts als die kindische Weigerung, sich selbst als einen historischen Menschen zu erkennen.
Man kann nun, in einem weiteren Schritt der Selbstbestimmung, behaupten, es läge in dieser Verurteilung eben ein Lernen aus der Geschichte; in ihr läge tatsächlich der Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Ich wollte das gern glauben. Woran nur mag es liegen, daß mir derlei immer als Beteuerung des Alkoholikers klingt, er wäre clean?
Niemand, der humanistisch fühlt und bei Troste ist, mag Zustände, in denen es politische Häftlinge gibt, oder in denen Menschen beim Übertreten von Grenzanlagen erschossen werden. Da bin ich ganz d’accord. Es ist nur eben die Verurteilung solcher Zustände, wenn sie erst vergangen sind, billig und leicht zu haben. Ich glaube den Verurteilern ihre Lernfähigkeit erst, wenn sie in der Gegenwart und künftig zu verhindern suchen, daß solcherlei sich wiederholt. Das ist der einzig gültige Gradmesser ihrer Redlichkeit und behaupteten Mündigkeit. Was tun sie, um zu verhindern, dass Menschen hungern, obdachlos sind, geknechtet werden, oder in Kriegen für fremde Interessen sterben oder in Gefängnissen gefoltert werden? Vor Inangriffnahme dieser Aufgaben ist alle Verurteilung der DDR nur moralischer Tand.
Nichts versperrt dem Menschen mehr seinen Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, als sein Drang, zu urteilen. Natürlich sind Urteile denknotwendig. Sie stiften Ordnung. Der Wunsch ist nun so nachfühlbar wie fatal, diese Ordnung als letzten Zweck allen Urteilens anzusehen. Das Urteil steht in dieser Sicht am Ende eines Denkprozesses; die Welt erhält ein Gefüge.
So verhält es sich in simplen Geistern; so verhält es sich bei den Meisten. In Wirklichkeit aber fordert jedes Urteil zu neuem Denken heraus. Ein Urteil ist ein Anfang eher, als es ein Schluss ist.
Das ist das einfache Geheimnis der Aufklärung und nebenbei auch der Grund, aus dem Adorno und Horkheimer in LA groben Käse rieben. Die Aufklärung wird nicht wegen des in ihr verschleierten Herrschaftsanspruchs zu ihrer eigenen Negation. Herrschaftsansprüche sind okay und Macht ist unentrinnbarer Bestandteil allen Handelns. Aufklärung wird zu ihrer Negation, wenn sie glaubt, durch ihren Vollzug an ein Ende kommen zu können. Wenn sie auf eine Welt festgefügter, ewiger Urteile hinaus will. Wie eben dieses, dass der Jude an allem Schuld sei, oder daß eine freiheitlich demokratische Grundordnung universellen Schutz vor Barbarei und Unmenschlichkeit böte.
Das Urteil ist das Wohlbehagen des Spießers. Am Ende wird er genau deswegen immer in der Diktatur landen; der Diktatur nämlich seiner eigenen Urteile. Aus Urteilssucht wird Zwang. Was könnte unmündiger sein? – Unrechtsstaaten, das sind Staaten, in denen die vorherrschende Auffassung von Politik auf das Fällen von Urteilen und Benennen von Schuldigen abzielt.
PS: Auch anderen Köpfen fällt zur „Unrechtsstaat“-Debatte nix mehr ein: http://sonntagsgesellschaft.wordpress.com/2014/10/01/letzter-mittwochsartikel-die-bequeme-rede-vom-unrechtsstaat/
Die DDR war kein Unrechts-, sondern ein (wenngleich mit Fehlern behafteter) formaler Rechtsstaat.
Es wurde eingewandt, der Satz, die Verurteilung der Zustände sei billig, wenn sie erst Vergangenheit wären, sei blind, denn es hätte schon zu DDR-Zeiten Kritik und Verurteilung gegeben. Darauf kurz:
Der Text bezieht sich auf die aktuell statthabende Debatte. In der geht es weniger um private Meinungen, als um öffentliche Sprachregelungen. Das ist ein Unterschied. Wie es auch einen Unterschied zwischen den Wörtern Unrecht und Unrechtsstaat gibt. Nirgends sage ich, es hätte in der DDR nicht auch staatlich angeordnetes Unrecht gegeben; unrechtlose Staaten gab es nie und wird es nie geben.
Die von der DDR zu Zeiten ihres Bestehens deshalb meinten, sie begehe Unrecht, konnten also durchaus Gründe haben. Natürlich war auch viel Kindsköpfigkeit, Eitelkeit und gekränkter Narzißmus im Spiel. Aber diese privaten Angelegenheiten und verschieden abgestuften Urteile sind, wie gesagt, gar nicht der Gegenstand.
Es geht um die heutige Debatte. Was ich an der bemängele ist nicht einmal, wie ich ja auch könnte, ihre Bigotterie. Was ich an ihr bemängele, ist, dass sie überhaupt ernst genommen wird. Mit anderen Worten, ich bemängele sehr viel grundlegender, dass wir in einer Zeit leben, in der solche Debatten mit Politik verwechselt werden. Das meint der letzte Satz, dass Unrechtsstaaten Staaten sind, in denen das Verurteilen und Schuldigenbenennen, bzw. die Debatten darum, als Politik gelten dürfen.
Gerade an dem Einwand der Gegenwarts- und Privat-Verurteiler exemplifiziert sich, was ich meine. Jeder darf und soll eine Meinung zur DDR sich bilden. Dawider und gegen die daraus sich entspinnenden Streits zwischen verschiedenen Urteilen und Erfahrungen kein Wort. Mein Text ist ja selbst so ein Beitrag. Blöd aber wird es mit der Hybris, es eigne sich dieser Meinungskampf zu einem ernsthaften politischen Gegenstand. Mehrerlei Dummheit versteckt sich in diesem Anspruch:
Erstens, es sei Aufgabe der Politik, Sprachregelungen zu treffen. Ist es nicht das, was viele an der DDR so abstösst? Und benehmen sich in der selben oberlehrerhaften Weise? Was sollen Sprachregelungen überhaupt? Sprache ist ein lebendig Ding; sie hat ihre eigene Weise, die Dinge offenbar zu machen. Jeder, der den alten DDR-Witz kennt: „unsere Mikroelektronik ist nicht klein zu kriegen“, weiss das.
Zweitens, es sei Aufgabe der Politik, Werte zu schaffen. Das ist nur zu einem klitzekleinen Teil wahr. Politik hat die Aufgabe, Werte zu schützen. Geschaffen werden Werte im gesellschaftlichen Dialog und zwar nicht zwischen dem Politiker und seinem Volk, sondern zwischen allen. Der Politiker darf eine Meinung haben, aber sie zählt nicht mehr, als die jedes anderen. Die Auffassung, der Politiker schaffe oder erdenke ethische Werte oder Normen, ist nicht nur eine Verstiegenheit der Politiker; es ist zu gleichem Maße die unmündige Sehnsucht der Bürger, es möge doch bitte jemand weisen, was richtig und falsch sei. – Das, lieber Bürger, liegt ganz bei Dir. Du hast die Verantwortung, Du hast die Schuld, Du gestaltest, indem Du lebst, die Geschichte.
Drittens schliesslich sind die Kämpfe um die Sprachregelung Stellvertreterkämpfe; Alibihandlungen. Wo die Politiker im tatsächlichen Verhindern von Unrecht versagen, da fangen sie an, auf andere Staaten zu zeigen, um das statthabende Unrecht zu relativieren. Darum geht es mir eigentlich. Anstatt um Sprachregelungen zu streiten, soll was passieren! Mir wäre doch vollkommen Wurscht, wenn die DDR Unrechtsstaat geheissen würde in einem Staat, der keine Obdachlosen hätte, keine Arbeitslosen, keine Kriege führte, keine Flüchtlinge massakrierte, keine vollkommen schiefe Vermögenslage hätte und so weiter! Die Wahrheit ist eben nur, das hängt mit dem zusammen. In einem solchen Staat hätte niemand es nötig, die DDR einen Unrechtsstaat zu nennen. Das würde ein Blinder mit Krückstock selber sehen. Solche Debatten, mit anderen Worten, werden nur in Staaten geführt, die selbst Unrechtsstaaten sind – eben weil sie es sind.
Ina Eff, zugegeben mein Problem mit dem „gesellschaftlichen Dialog“ geht über das Thema hinaus. Aber vielleicht könnte es von Interesse sein. Ohne Frage sind Werte und Normen etwas, das zwischen den Menschen entsteht. Aber was ist der gesellschaftliche Dialog? Läuft es nicht darauf hinaus, dass irgendwelche sich berufen fühlende, besser oder schlechter erraten, was den Menschen ihre Werte und Normen denn nun sind. Und das wird dann unter den Menschen wiederum als Wert und Norm herumgereicht. Oder, wie stellen sie sich diesen Dialog vor?
„DDR…wenn überhaupt, eine sowjetische Diktatur war.“ . Überhaupt.